Die Würde des Menschen ist tastbar (Predigt Mitarbeitendengottesdienst 2016)

Die Würde des Menschen ist unantastbar – ja, so sagt es das Grundgesetz. Und wir – wir, als Diakonisches Werk, „achten die Würde des Menschen“ (Leitbild). Was aber Würde ist, steht nicht im Grundgesetz, auch nicht in der Bibel. Auch nicht im QM-Handbuch.

Predigt – Christuskirche RE

Mitarbeitenden-Gottesdienst 2016

Die Würde des Menschen ist tastbar

 

Was Würde ist – da muss ich mich immer wieder neu vorfühlen. Ja, die Würde des Menschen ist tastbar.

 

Man braucht Fingerspitzengefühl.

Man kommt dem Nächsten sehr nahe, wenn man die Frage nach seiner Würde nicht nur theoretisch stellt, sondern wenn man sich auf ihn einlässt und empfindsam wird.

 

So formulierte ein deutscher Afghanistan-Soldat: „Wie nahe uns das Gute und Böse geht, das uns begegnet, hängt nicht von dessen Ausmaß ab, sondern von unserer Empfindsamkeit.“

 

II.

Tasten wir uns also vor: Bei einem Abendessen von Jesus mit sicher wichtigen Religionsgelehrten erscheint plötzlich diese Frau auf der Bildfläche. Ihre „Sünde“ ist keine Frage der Religion, sondern der bürgerlichen Moral: Sie wird wohl eine Prostituierte sein, die tut, womit sie an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wird.

 

Wir erfahren nicht mal ihren Namen. Ob er sie siezt?

 

Und was ist ihre Würde? – Was ist ihre Geschichte und damit ihre Verletzbarkeit und ihre Sehnsucht? Was macht ihre Einzigartigkeit aus, ja auch ihre Einzigartigkeit?

 

Sie tritt von hinten heran an die Füße Jesu, weint, netzt die Füße mit Tränen, trocknet die Füße mit ihrem Haar, küsst die Füße – und salbt sie mit kostspieligem Salböl. Immer wieder die Füße – eine absolut kitzelige Stelle…

 

Eigentlich gehört es sich damals, dem Gast die Füße zur Begrüßung zu waschen – aber mit Wasser, nicht mit Tränen. Und die Füße seines Gastes zu trocknen, aber mit einem Tuch – aber nicht mit den Haaren.

 

Die Frau nähert sich, sucht eine unglaubliche Nähe, ganz ohne Worte. Es wird intim und körperlich. Typisch! Eine Hure…

 

III.

Frau Rosenkranz/Brille“: Würde wird für mich auch tastbar, wenn ich mich in die Lage des Ratsuchenden versetze. Wenn ich versuche seine Sichtweise zu verstehen und meine Sicht zu schärfen, kann ich ihn besser unterstützen.“

 

Jesus tut – ungewöhnlicherweise – nichts. Er lässt sich aber im doppelten Sinne von der Frau „berühren“. Er hat keinen vorgefertigten Blick, obwohl er sicher schon weiß, was die Gesetzestreuen jetzt über ihn denken. Für ihn hat jeder Mensch eine eigene Geschichte und damit auch eine individuelle Würde.

 

Was verletzt die Würde dieser Frau? Was schützt sie? Hier und jetzt?

 

Jesus versetzt sich in die Lage der Frau, gerade indem er nichts tut. Würde er sich wehren, würde er die aufrichtige Liebe dieser Frau abwehren und sie in das Bild zurückpressen, das die Gesellschaft von ihr hat.

 

Er lässt es geschehen, er lässt sich Zeit und gibt der Frau die Zeit. Und er gibt ihr damit die Chance, ihre echte Zuneigung zu zeigen.

 

Frau Rosenkranz/Stoppuhr: „Würde wird für mich dadurch tastbar, dass ich mir auch unter Zeitdruck im Arbeitsalltag, Zeit für die Sorgen, Ängste und Probleme meiner Mitmenschen nehme.

Ein würdevoller Umgang bedeutet für mich auch, mir in Ruhe das Anliegen meiner Mitmenschen anzuhören und Hilfestellung zu geben wenn sie es wünschen.

 

Jesus lässt sich von dieser Frau „berühren“, im doppelten Sinne. Er findet ihre Würde heraus.

 

Nicht das erotische Berühren seiner Füße ist die entscheidende Geste, sondern die Tränen.

 

Hier bricht ihre Verletzlichkeit heraus, ihr Innersten. Durch die Begegnung mit Jesus ist die Frau nicht mehr festgelegt, ja festgenagelt, sondern frei, sich zu öffnen.

 

IV.

Auch der Pharisäer Simon soll im anschließenden Dialog einen anderen Blick auf die Frau werfen: Jesus hält ihm vor, dass Simon selbst die einfachsten Höflichkeitsregeln missachtet hat: kein Füßewaschen, kein Begrüßungskuss. Die Frau aber habe echte Liebe gezeigt – gegen alle gesellschaftlichen Konventionen.

 

Ihr ist damit um ein vielfaches mehr vergeben im Anbetracht dieser Liebe. Sie geht in „Frieden“, mit „schalom“, dem biblischen Beziehungsbegriff schlechthin: mit der Hoffnung auf neue, andere Gemeinschaft. Auf Teilhabe am Leben. Rehabilitiert. Neu eingebunden.

 

V.

Der Blick fällt unweigerlich auch auf mich und meine Würde: „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin“ (Ps 139).

So nimmt mich auch Gott in den Blick, wie Jesus diese Frau. Gott schaut hoffentlich davon ab, was andere von mir denken und was andere mir für eine Würde zumessen. Er kennt mich wirklich („Gott kannte mich schon, als ich im Verborgenen gemacht wurde“), auch mit allen Untiefen. Er liebt mich bedingungslos. Ich muss mich nicht verstellen.

 

Ich kann mich selber annehmen, weil ich angenommen bin.

 

Herr Klomann/Spiegel: Würde wird für mich tastbar, wenn ich mich und meine Würde im Blick behalte. Nur so kann ich authentisch im Umgang mit Klienten und Mitarbeitenden sein und ihnen würdevoll begegnen.

 

Ich frage mich: Was würde Gott über mich erzählen?

Wofür stehe nur ich?

Wo sind meine Grenzen? Wo wäre meine Würde verletzt?

 

VI.

Wir arbeiten für die Diakonie.

Ich denke, wir alle schätzen in diesen Zeiten, dass wir unsere Arbeit richten an Menschen unabhängig von Herkunft, Religion und sozialen Stand.

 

Damit orientieren wir uns an diesem Jesus, der jeden Menschen anschaut und auch bereit ist, Widerspruch in Kauf zu nehmen. Würde ist unabhängig von moralischer Beurteilung, unabhängig von vorgefassten Zuschreibungen und Urteilen.

 

Wir erleben ja derzeit, wie Menschen in ihrer Würde diskreditiert werden wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihrer Religion. Der Nachbar soll nicht Boateng heißen, es sei denn er ist deutsch und christlich, dann doch. Wir erleben politische Programme, die Sozialleistungen davon abhängig machen wollen, ob man Deutscher ist oder nicht.

 

Nun hat das christliche Abendland die allgemeinen Menschenrechten hervorgebracht und den 1. Artikel des GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

 

Das hat damit zu tun, dass Jesus von Nazareth das Nächstenliebegebot mit dem Feindesliebe konkretisiert – und damit unterstreicht, dass die Würde jedem Menschen gilt, selbst dem, den ich als letzten vor Augen hätte.

 

Die Würde des Menschen mag verletzbar sein, sie ist aber nie verlierbar! Sie kann niemanden abgesprochen werden!

 

Das ist doch der Antrieb, dass wir uns immer wieder neu sich einzusetzen für Entrechtete und an den Rand Gestellte, für Schwache und Nichtbeachtete.

 

Würde gibt es nicht stückchenweise. Entweder wird sie dem Menschen zuerkannt, oder eben nicht, wodurch das Menschsein im Ganzen abgesprochen würde.

 

VII.

Die Diakonie ist ein „Würde-Netzwerk“. Sie geht davon aus, dass Gott über jeden Menschen, der uns anvertraut ist, etwas zu erzählen hat. Weil Gott aber oft nur flüstert, müssen wir beim Mitmenschen selber hinhören.

 

Frau Holtz/“Netz“ „Würde ist für mich tastbar, wenn ein starkes Netz uns hält und Empathie, Offenheit und Kommunikation in unserer Arbeit möglich macht.“

 

Ich wünsche uns als Werk, als Teil der evangelischen Kirche, dass wir der Würde der anvertrauten Menschen möglichst oft nahe kommen – auch wenn Nähe die Gefahr birgt, sich auch mal Finger zu verbrennen.

 

Den drei Leitungskräften, die neu begonnen haben, und allen anderen neuen MA sei gesagt: Ihr seid nicht alleine unterwegs, sondern in der Gemeinschaft mit Anderen, die Euch unterstützen und die auch Euch in Eurer Würde bewahren.

 

VIII.

Würde wird im Grundgesetz benannt, aber bewusst ohne einen spezifischen weltanschaulichen Begründungszusammenhang. Den hat jeder selbst für sich zu formulieren oder für die größere Gemeinschaft, in die er gestellt ist.

 

Lassen wir uns doch einfach mal des Öfteren überraschen, welche Feinsinnigkeiten und Empfindsamkeiten die Bibel und die Orientierung an Jesus, dem Christus, zu bieten hat:

 

Frau Schindler/Bibel: Christ sein und diakonische arbeiten und handeln: Diese Aufforderung entnehme ich dem Neuen Testament. Das ist meine Basis. Jesus hat uns mit seinem Leben gezeigt, was möglich ist. Er hat uns in seine Nachfolge genommen; er hat uns das Gebet und die Nächstenliebe mitgegeben, und er lässt uns die Freiheit, nach unseren Gaben und Möglichkeiten tätig zu werden. Er fordert uns auf, uns an die Seite der Schwachen und Benachteiligten zu stellen, aber auch uns selbst nicht aus dem Blick zu verlieren.

 

Amen.