Ein neues Jahr hat begonnen. Gestern noch die Jahresrückblicke – nun der Blick nach vorne: Neu beginnen dürfen, Neues wagen dürfen, Vorsätze umsetzen dürfen.
Predigt – St. Matthäus
Ökumenischer Gottesdienst zum Neujahr
Jahreslosung 2015: Röm 15,7
Seit 1934 begleitet die evangelischen Christinnen und Christen durchs Jahr die Jahreslosung: 2015 heißt die Losung: Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. (Röm 15,7)
Eine Losung mit Anspruch. Perfekt, die guten Vorsätze – wenn man sie hat – hineinzulesen, auch für uns als Kirchen und Christenmenschen:
- Nehmt einander an, also führt Euch die Flüchtlingsschicksale stärker vor Augen (Übersetzung von Röm 15,7 in einer Predigt von Jürgen Moltmann: „Darum nehmt euch untereinander auf!“)
- Nehmt einander an: Schaut auf die Spaltungen in dieser Gesellschaft, zwischen Arm und Reich, zwischen Menschen mit Teilhabechancen und denen ohne.
Der gesellschaftspolitische und sozialethischen Anspruch in dieser Losung ist mir sofort vor Augen und hat ja seine Aktualität und Berechtigung. Im Kontext des Röm hat das Wort „Nehmet einander an, wie Christus euch angenommen hat“ aber zunächst eine interessante andere Richtung: Es ist nach innen, in die römische Gemeinde, hineingesprochen.
II.
In Schlussteil des Röm geht Paulus auf konkrete Spannungen in der Gemeinde ein, eingeleitet mit fast den gleichen Worte (Röm 14,1): „Den Schwachen [Unsicheren] im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen!“
Unsicherheit entstand in der Gemeinde darüber, ob Christen Fleisch essen dürfen. Diese Frage war mehr als nur eine Lappalie: Denn die Gemeinde bestand aus Judenchristen, die aus ihrer jüdischen Tradition heraus Milch- und Fleischprodukte säuberlich trennten. Sie hielten es für einen Greul, wenn Heidenchristen sich nicht an die Speisevorschriften hielten.
Die Heidenchristen wiederum verstanden es wohl aus Ausdruck ihrer christlichen Freiheit, Fleisch zu essen und nicht den Toravorschriften folgen zu müssen: Sie ließen bewusst die Barrieren zwischen heiligem und profanen Leben schleifen. Sie schnitten radikal der jüdischen Traditionen ab.
Die einen wie die anderen sollen aber nicht Gefallen an sich selbst haben, schreibt Paulus (Röm 15,1): Sie sollen den jeweils anderen nicht Glaubensüberzeugungen abringen oder gar eine Heilsfrage daraus stilisieren. Sondern: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat!“
Es ist ein ökumenischer Satz!
Kein Bruder vermag den anderen, keine Schwester die andere, zum „Bleiben“ und „Stehen“ im Glauben bringen.
Das tut allein Gott durch Jesus Christus: Mit seinem Leben, seinem Sterben und Auferstehen ist das Heil da – wohlgemerkt auch des christlichen Bruders, der christlichen Schwester. Darüber hat keine Mensch Befugnis oder Macht zu entscheiden, wie immer er den christlichen Glauben auch zu leben begreift, welche Traditionen und Sitten er hat.
„Keiner lebt sich selbst, keiner stirbt sich selbst“ (Röm 14,7), schreibt Paulus – dieser berühmte Vers, den wir als Auferstehungswort am offenen Grab kennen, er klärt vor allem den Rahmen ums Ganze, in dem dann verschiedene Standpunkte und Traditionen, verschiedene Prägungen ihr Recht haben, aber nicht heilsrelevant sein sollen:
„Keiner lebt sich selbst, keiner stirbt sich selbst. Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige der Herr sein.“ (Röm 14,7)
Mit Blick auf die Speisegebote in der römischen Gemeinde heißt das: Speisen, die einen „unrein“ machen, also einen Menschen von Gottes Nähe abhalten könnten, gibt es nicht. Die Heilstat Christi ist umfassender!
Umgekehrt gilt aber auch: Wer auf „unreinen“ Speisen dennoch verzichtet, ist aber ebenso wenig als Christ disqualifiziert Christus hat auch ihn genauso angenommen.
Hier entdecke ich einen wichtigen ökumenischen Grundsatz, den wir im neuen Jahr weiter kultivieren und leben sollten: Es gibt verschiedene Prägungen! Ja schmerzhaft muss es uns immer wieder in die Knochen fahren, dass die Kirche, von Christus angenommen, nicht eins ist, sich also nicht angenommen hat. Es gibt Momente, wo – wie in der römischen Gemeinde – Standpunkte gegen Standpunkt stehen.
Aber Jesus Christus hat uns durch seine Heilstat längst angenommen. Er schafft den Rahmen, in den wir getrost Unterschiede einzeichnen dürfen. Wo die Bereitschaft zur Versöhnung reifen kann. Wo der Geist Gottes weht, um den anderen zu verstehen und nach Einheit zu streben.
„Die Einheit aller Christen wiederherstellen zu helfen ist eine der Hauptaufgaben des Heiligen Ökumenischen Zweiten Vatikanischen Konzils.“ So beginnt das Ökumenismusdekret des 2. Vatikanischen Konzils, das sich Ende November zum 50. Mal jährte. Und dann geht es weiter, als ob die Jahreslosung 2015 theologisch zu Grunde gelegt wäre:
„Denn Christus der Herr hat eine einige und einzige Kirche gegründet, und doch erheben mehrere christliche Gemeinschaften vor den Menschen den Anspruch, das wahre Erbe Jesu Christi darzustellen; sie alle bekennen sich als Jünger des Herrn, aber sie weichen in ihrem Denken voneinander ab und gehen verschiedene Wege, als ob Christus selber geteilt wäre.“
Christus ist aber unteilbar: Es gibt verschiedene Standpunkte, sogar verschiedene Konfessionen und Kirchen, aber den einen Herrn, der uns angenommen hat. Daher – im doppelten Sinne – soll die „Losung“ sein: Nehmt einander an!
Die römisch-katholische Kirche hat sich mit dem Ökumenismus-dekret 1964 der ökumenischen Bewegung geöffnet und in meinen Augen anerkannt, dass die Vielfalt der Konfessionen ein Geschenk des Heiligen Geistes ist. Das ist eine große Leistung, die nicht in Vergessenheit geraten darf.
Für uns Protestanten kann ich es mir auch nicht anders vorstellen, als dass wir 2017 das Reformationsjubiläum ökumenisch feiern. Im Duktus des Predigttextes kann auch kein Zweifel darin bestehen, dass wir es als „Christusfest“ feiern. Als was denn sonst? Die Reformation wollte – auch wenn es dann zur institutionellen Spaltung kam, zu Kriegen und dogmatischer Engstirnigkeiten – nichts anderes, als Jesus Christus als den einen Herrn der Kirche neu herausstellen.
Gelungene „Reformation“, Neuformulierung, heißt: daran erinnern, dass Christus uns angenommen hat.
Er hat den Rahmen gesetzt. Er umfasst Leben und Sterben („wir leben dem Herrn, wir sterben dem Herr“). Damit ist in diesem Rahmen das, „was uns verbindet viel stärker, als das, was uns trennt“ (Enzyklika Ut unum sint 20).
So wünsche ich uns für 2015, dass wir gemeinsam Jesus Christus in die Mitte unseres gemeinsamen Glaubens und Handelns stellen.
Dann sind wir gemeinsam in unserem Element, wie es im Klappentext von Siegfried Eckerts Buch „2017 – Reformation statt Reförmchen“ heißt:
„Wir sind in unserem Element,
wenn wir uns unserer Geschichten vergewissern, der Toten erinnern und im Leben den Tod nicht verdrängen.
Wir sind in unserem Element,
wo Gottes Geist weht, wie er will und wir als Kirche Verantwortung für die Zukunft übernehmen, im Wissen, hier keine bleibende Stadt zu haben.
Kirche ist in ihrem Element,
wo sie die Trennung von sakral und profan überwindet und die gebotenen Distanz zur Welt einhält, sie ihren vernünftigen Gottesdienst im Alltag der Welt und den Sonntag als Fest des Lebens feiert.
Kirche ist in ihrem Element,
wo sie ihre Berührungsängste vor Aussätzigen und Andersdenkenden verliert und Aufklärung betreibt; den Reichtum der Kultur als Lebensäußerung begabter Gotteskinder achten und jeglichem Fundamentalismus wehrt.
Wir sind im unserem Element, wo Spiritualität kein Fremdwort ist, sondern als tägliches Ein- und Ausatmen göttlicher Gegenwart genossen wird.“
Mit eigenen Worten gesagt: Wir sind in unserem Element, wenn wir einander annehmen, weil wir uns angenommen wissen von Christus Jesus, dem gemeinsamen Herr der einen Kirche.
Amen.