Die Stalingrad-Madonna (Weihnachten 2014)

Ach, wenn es das Gute doch gäbe … Zur Heiligen Nacht sehnen wir uns nach dem Guten und Schönen. Nach Frieden und Ruhe. Wir erhoffen tiefe Menschlichkeit und Geschwisterlichkeit, so wie die Darstellung auf dem Gottesdienstprogramm.

Predigt – Lutherkirche Altena

Heiligabend Christmette

Zur Stalingrad-Madonna von Kurt Reuber

Dort sehen wir die Maria mit ihrem Kind: Der Kopf der Mutter ist über das Kind geneigt. Ein großes Tuch ummantelt die beiden: Welch eine innigen Haltung, welch eine Geborgenheit.

 

Das Bild rührt für mich die innigsten Sehnsüchte des Menschen, die an Weihnachten Form und Ausdruck finden. Weihnachten ist eine echtes Innehalten, eine Unterbrechung: Zeit für diese Sehnsucht.

 

II.

Lasst uns bei allem aber nicht vergessen, dass Weihnachten dabei nicht „harm-los“ ist. Das alte deutsche Wort „Harm“ bedeutet so viel wie „Kummer“, „Trübsal“, „Weh“.

 

Wenn Gott wirklich Mensch wurde, uns Seinsgleichen wurde, dann kommt er in allen Harm, in allen Kummer und alles Weh dieser Welt hinein.

 

Weihnachten ist nicht „harm-los“, weil die Welt nicht „harm-los“ ist.

 

Wir machen uns Weihnachten nur allzu oft „harm-los“:

 

  • Auf dem Wormser Weihnachtsmarkt wurde ein Krippenspiel verboten: Es wollte auf das aktuelle Flüchtlingsthema aufmerksam machen. Es passe aber nicht zur besinnlichen Weihnachtsstimmung der Menschen, beschied sogar ein Gericht. – Doch mit Flucht, Not und Armut sind wir doch direkt in der Weihnachtsgeschichte der heiligen Familie: Maria und Josef machen sich erst unter abenteuerlichen Umständen zur Volkszählung auf. Nach der Geburt Jesu müssen sie wegen der Verfolgung des Herodes nach Ägypten flüchten…

 

  • Genauso „verharmlost“, ja geradezu verdreht, werden unsere christlichen Weihnachtslieder, wenn sie – wie am Montag in Dresden geschehen – auf der Pegida-Demonstrationen angestimmt werden: Jeder darf sie singen. Aber sie taugen nicht zur vermeintlichen „Rettung des Abendlandes“, sondern besingen die Weisen. Und die kommen aus dem Morgenland. Der neugeborene König in der Krippe führt Menschen aller Welt mit ihrer Sehnsucht Menschlichkeit, die keine Abgrenzung kennt, zusammen.

 

  • Mitunter sind wir in der Kirche auch nicht anders: Beim weihnachtlichen Jesaja-Text – „das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht“ – streichen wir oft die Stellen, die nicht so harmlos daherkommen: „Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt werden.“ Und dann schließt sich direkt an: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft liegt auf seiner Schulter“ – und eben nicht auf derer Schultern, die die Welt mit Gewalt und Hass und Krieg regieren!

 

Durch diesen Gegensatz bekommt die messianischen Verheißung erst ihre Tiefe. Diese Tiefe benötige ich gerade am Ende eines Jahres, das neue alte Konflikte kannte. Wir haben erlebt, wie fragil der Frieden auch bei uns in Europa ist. Russland gehört zu Europa, und der Konflikt mit der Ukraine ist keine zwei Flugstunden entfernt.

 

III.

Es geht nicht darum, das ganze Weltleid über die Weihnachtsbotschaft auszuschütten. Aber wir selbst wollen doch die Frohe Botschaft, das „Evangelium“ hören, auch andere sollen es hören, ohne dass wir gleich abgetan werden als Weltfremde, als religiöse Spinner, oder gar als Zyniker.

 

Ich möchte nicht diskreditiert werden als „Gutmensch“, wenn ich das Gute ersehne und an Weihnachten auch zu sehen meine.

 

Ich möchte ernst genommen werden in meiner Hoffnung, dass sich die Welt ändern kann, indem sie mitten in allen Harm hinein ein neues Vorzeichen bekommt: Dass Gott Mensch wird ist die „Geschichte vom Guten“. So übersetzt der französische Jesuit Christoph Theobald den Begriff „Evangelium“. Mit Jesus von Nazareth steht die simple Behauptung um Raum: Das Gute ist da! Es ist möglich! Man kann es erfahren, sogar im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst erzeugen!

 

IV.

Und daher gehört zu Weihnachten, das nicht harmlos sondern tief betrachtet wird, auch die Geschichte dieses Bildes, dieser Madonnen-Darstellung auf dem Gottesdienstprogramm.

 

Sie stammt vom Mediziner, Theologen und Künstler Kurt Reuber. Er war im Zweiten Weltkrieg Oberarzt im Lazarett; von ihm erhalten sich einige Kohlestift-Zeichnungen.

 

Reuber wurde im Winter 1942/43 im Kessel von Stalingrad eingeschlossen. Dort starben auf beiden Seiten die unbeschreibliche Zahl von 700.000 Soldaten. Für sich und seine Kameraden zeichnete Reuber auf der Rückseite einer russischen Landkarte sein wohl eindrucksvolles Bild: die Stalingrad-Madonna. Am Heiligabend 1942 versammelten sich die geschundenen und verzweifelten Männer in einem Bunker um dieses Bild und feierten Weihnachten. Gleichzeitig begann der unbeschreibliche Leidensweg einer eingeschlossenen Armee.

 

Das Bild, das heute in der Berliner Gedächtniskirche hängt, die selbst vom Krieg zerstört wurde, wurde mit einem der letzten Flieger aus dem Kessel geflogen. Kurt Reuber starb im Januar 1944 in russischer Gefangenschaft.

 

An Weihnachten frage ich mich, ob unsere Frage nach dem Guten ins Leere und ins Vergebliche zielt – oder ob wir in der Tiefe der weihnachtlichen Geschichte – damals wie heute – das Gute finden, gerade weil es nicht ohne den Harm existiert.

 

V.

Die Schüler des Burggymnasiums haben unter der Woche in ihrem Schulgottesdienst auch versucht, Weihnachten seine Harmlosigkeit zu nehmen. Sie haben erzählt und illustriert – das ist noch so eine eigentümliche Kriegs-Weihnachtsgeschichte! – , wie Deutsche und Engländer in den Schützengräben des 1. Weltkrieges zu einem Weihnachtsfrieden fanden. Auf den Tag genau vor 100 Jahren!

 

Tannenbäume wurden aufs Feld gestellt und von einem Schützengraben zum anderen Weihnachtslieder hin- und hergesungen. Es wurde sogar ein gemeinsamer Gottesdienst in verschiedenen Sprachen gefeiert und eine Waffenruhe für die Bestattung der Gefallenen vereinbart.

 

Ein „eintägiger Streik gegen den Krieg“ – am 26. Dezember wurde an den meisten Frontabschnitten wieder geschossen.

 

VI.

Nun kann man fragen, wo der Glanz von Weihnachten geblieben ist, wenn der Krieg nur unterbrochen, aber nicht beendet wird. Man kann fragen, was die Stalingrad-Madonna am Leid der Soldaten verändert hat.

 

Diese Frage führt aber weg von denjenigen Menschen, die – und sei es nur für einen Moment – an das Gute geglaubt haben. Und – wo ich sage – das auch Gute da war. Auch in allem Bösen. Und durch alles Böse hindurch.

 

Denn Menschen machen sich Weihnachten immer wieder das Gute habbar. Manche erobern es sich geradezu und halten ungebrochen an ihrem Idealismus fest. Sie setzen trotzig voraus, dass es ganz persönlich für ihr Leben das Gute gibt. Sie lassen sich nicht beherrschen lassen vom Harm.

 

Das Evangelium vom in die Welt gekommenen Christus behauptet nicht, dass Welt irgendwie „gut“ wäre.

 

Die Botschaft des Engeln lautet: „Fürchtet Euch nicht!“

 

Und gegenüber den Hirten in der Dunkelheit der Nacht: „Freuet Euch“: Freuet euch über diese Geburt, weil mit ihr – im doppelten Sinne – die Menschlichkeit neu beginnt – wie eigentlich mit jeder Geburt: Eine Geburt ist das Gegenbild vom Sterben. Die Stalingrad-Madonna ist Menschlichkeit, die sich nach außen schützt gegen alle Unmenschlichkeit.

 

An Weihnachten gibt es das Gute zu erfahren, zu besehen und besingen, mitzunehmen und weiterzugeben – auch wenn in dieser Welt oft wenig (oder gar nichts dafür spricht), dass es Gott wirklich gibt. Aber es ist gar nicht unsere Aufgabe, zu erweisen, dass es Gott gibt. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“, formulierte Dietrich Bonhoeffer gegen alle Versuche, den Unerklärlichen zu erklären oder den Unbeweisbaren zu beweisen.

 

Unsere Aufgabe ist es, trotzig anzunehmen und zu so leben, dass es das Gute gibt. Das gibt uns dann hoffentlich eine klare Haltung: wie wir uns zu Flüchtlingen stellen, die in unser Land kommen. Wie wir sensibel bleiben für Frieden in der Welt, sei es im Iran und Syrien, Palästina und Israel und in Europa. Dass Gott einfach Mensch wurde, macht jeden Menschen auf der Erde gleichwertig, es macht ihn interessant, ihn kennenzulernen, auch mit dem, was mir noch fremd ist: vielleicht seine Kultur und Religion, seine Sprache und Nationalität. Zum christlichen Abendland gehört die Nächstenliebe!

 

Wir können unser Leben von seiner augenscheinlichen Harmlosigkeit entkleiden. Wir können trösten und helfen, das Sinnvolle suchen, das Gute teilen. Nicht zynisch werden! Nicht deprimiert, mit Blick auf Kriege, Leid und Unrecht! Sondern wir können uns unterbrechen lassen, um das Gute zu sehen, das uns an Weihnachten in die Wiege gelegt ist!