Betanien (Palmarum 2011 zu Mk 14,3-9)

Was wäre Ihnen der Wunsch von Simon wert? Simon ist neun Jahre alt und an Krebs erkrankt. Die Ärzte wissen nicht, ob er wieder gesund wird oder sterben muss.

Predigt – Lutherkirche Altena

Palmarum 2011 (17. April 2011)

Mk 14,3-9 Salbung in Bethanien

 

Der Alltag hat Ausnahmesituation pur. Alles dreht sich nur noch ums Krankenhaus.

 

Simon hat einen Wunsch: Er möchte einmal in einem Hubschrauber über das Ruhrgebiet fliegen.

 

Wär es nicht sinnvoller, für seine Therapie in die Tasche zu greifen? Ihm vielleicht die eine oder andere Annehmlichkeit in den Kliniken mit einer Spende zu ermöglichen? Muss es gleich ein so abgefahrener Wunsch sein? – Er soll doch erst einmal gesund werden …

 

Wir kommen am Ende nochmals zu Simon zurück …

Ich lese den Predigttext aus Mk 14,3-9:

 

Und als er in Betanien war im Hause eines Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Glas mit unverfälschtem und kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Glas und goss es auf sein Haupt.

4 Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls?

5 Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.

6 Jesus aber sprach: Lasst sie in Frieden! Was betrübt ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan.

7 Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit.

8 Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis.

9 Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in aller Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie jetzt getan hat.

 

II.

 

Die Situation in Betanien, vielleicht so etwas wie dem Hauptquartier Jesu in Jerusalem: Es ist eine absolute Ausnahmesituation. Die Lage hat sich dramatisch zugespitzt. Zwei Tage sind es noch bis zum Passah-Fest. Gerade haben die Hohepriester und Schriftgelehrten beraten, wie sie Jesus am besten beseitigen können. Die Stimmung ist angespannt. Eine ausgesprochene Männergesellschaft – und in diesen Stunden auch eine Schicksals- und Leidensgemeinschaft. Ich stelle mir vor, dass man am liebsten alleine und abgeschottet nach einem Ausweg sucht.

 

Was tut diese Frau nur? – Sie bricht in die Hausgemeinschaft Jesu und seiner Jünger ein. Und schier alles, was sie tut, ist unvorstellbar: Sie salbt Jesus – mitten beim Essen! Sie nimmt sündhaft teures Öl, heute mindestens 20.000 EUR wert. Das wertvolle Glas geht kaputt. Verrückt, was für ein dekadenter Luxus!

Und noch was: Sie salbt Jesus nicht die Füßen, sondern den Kopf! Das ist die Krönung! – Ja, das ist die Krönung: Nur Könige werden gesalbt, bei ihrer Krönung. Christus heißt: Gesalbter. „Jesus, du bist der Christus“, bekennt diese Frau, ohne ein einziges Wort zu sagen.

 

Wer ist sie? – Ich stelle mir vor, dass sie sich in die Mitte drängt, ganz anders als der schüchterne Zachäus auf dem Baum am Wegesrand. Da steht sie, sicher als Wohlhabene, zwischen den einfachen Menschenfischern, die Jesus gesammelt hatte. Wir erfahren nicht mal ihren Namen. Nach der Salbung ist ihr Auftritt schon beendet.

 

Es ist kein Wunder, dass ihr Verhalten scharfen Protest der Jünger hervorruft. Welchen Sinn hat diese Vergeudung? Warum hast Du das Öl nicht verkauft und den Armen etwas Gutes getan?

 

Ich höre uns einstimmen und uns an die Stirn schlagen: Ja, das wäre doch vernünftig gewesen. Und eine einmalige Chance: Wir haben ja kaum noch Geld, das wäre ein warmer Geldregen, eine Superspende. Man hätte eine Stiftung gründen können und die Zinsen könnten dann die laufende Arbeit unterstützen und die Kürzung der Kirchenmusikerpauschale abfedern, endlich mehr für die Armen auch in unserer Gemeinde und so weiter und so weiter…

 

III.

Wie reagiert Jesus? Er nimmt überraschenderweise die Frau in Schutz und nennt die mutige und provokante Salbung der Frau ein „gutes Werk“.

 

Jesus bricht mit einer falschen Alternative, die die Jünger im Kopf haben: Als könne man Luxus gegen Liebe ausspielen oder Armenhilfe gegen Überfluss.

 

Er widerspricht in beide Richtungen:

 

Zum einen hebt er die Ökonomisierung des Lebens aus den Angeln: Muss sich wirklich alles rechnen? Muss alles rational und ökonomisch sein, darf eine „Investition“ nicht auch mal aus dem heißen Herz sein? –

 

Nein, Jesus hebt die Logik auf, danach zu fragen, was man mit dem Geld nicht alles hätte machen können: Wenn der Kirchentag in Dresden 15 Millionen EUR kostet – wie viele Hungernde könnte man retten? – Ist es bei todkranken oder alten Menschen wirklich noch sinnvoll, kostspielige Operationen durchzuführen, wo doch Krankenkassenbeiträge sinken oder Aidskranken in Afrika mehr geholfen werden könnten? – Gerade beim letzten Beispiel merken wir, dass der Mechanismus einer Ökonomisierung des Lebens zu immer neuen Problem führt, das Kosten-Nutzen-Denken in immer neue Ratlosigkeiten hervorruft!

 

Zum anderen geht es in diesem Moment gar nicht darum, den Armen zu helfen. Bettlern und Armen könnt ihr helfen, wann ihr wollt, sagt Jesus. Ihr könnt das immer noch tun. Aber nun sind wir / bin ich in einer absoluten Ausnahmesituation. Ich werde bald sterben – das verändert sich die Tagesordnung.

 

Daher tut die Frau nichts Falsches, indem sie in diesem Moment nicht daran denkt, das Öl zu Geld zu machen für die Armen. Sondern sie tut das Richtige, indem sie sich in diesem Moment Jesus zu wendet.

 

Es geht nicht darum, dass die Frau Geld ausgegeben hat oder wie viel Geld sie gibt. Ihr Tun wird nicht eben nicht ökonomisch bewertet, auch nicht moralisch, wie es die Jünger tun. Für Jesus zählt allein ihre Zuwendung. Allein ihre Liebe, die sich eben nicht rechnet. Die geradezu verschwenderisch ist! So wie ein Bräutigam seiner Braut einen möglichst wertvollen Ring kauft, weil er sie liebt – und nicht, weil Kaufpreis, Material und Verarbeitung in einem wirtschaftlich annehmbaren Verhältnis stehen …

 

Diese Frau fragt nicht danach, was es ihr kostet. Sie lässt es sich etwas kosten. Sie vergießt ihr Fläschchen Öl – für ihn. Für ihn, der bald sein Blut vergießen wird: für uns.

 

Es wirkt so, als ob Jesus selber diese Zuwendung und Zuneigung braucht, die in der Salbung steckt. Voller Angst, voller Unruhe, konfrontiert mit Leid und Unrecht.

 

Mit Blick auf das Leid und den Tod ist alles anders und nichts, wie man es erwarten würde. So ist es auch bei Jesus. Darin kommt er uns als Mensch so nahe. Darin teilt er als Mensch unser Leid.

 

IV.

Ich sehe uns nicht nur bei den Jüngern oder bei Jesus. Ich sehe uns auch in der Rolle dieser mutigen Frau. Sie wird ja zum leuchtenden Beispiel: Wo immer das Evangelium verkündigt wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat und wird ihrer gedenken.

 

Wie drücken wir heute unsere Liebe zu Jesus, dem Christus aus? Wo verschaffen wir uns Nähe zu ihm und seiner Botschaft? – Gerade in Trauer und Extremsituationen begegne ich Menschen, die in biographischen Ausnahmesituationen sind, so wie Jesus und seine Jünger in Betanien, und die geben, ohne dass es sich „rechnet“. Die über sich hinaus wachsen. Denen das Herz überläuft. Und die darin diesem Jesus nahekommen.

 

Die Nähe zu Jesus entsteht vor allem dann, wenn wir die Suche nach dieser Nähe als Liebeswerk verstehen und gestalten (so wie es diese unbekannte Frau tat), wenn wir das Wertvollste des Glaubens und des Lebens, das wir besitzen, nicht für uns behalten, sondern öffnen, zerbrechen und ausgießen.

 

V.

Zurück zu Simon und seinem Wunsch, vielleicht seinem letzten, auf alle Fälle seinem4r5 größten Wunsch: ein Hubschrauberflug über das Ruhrgebiet.

 

Tatsächlich haben Menschen für ihn gespendet. Geholfen hat der Verein „Herzenswünsche“ aus Münster. Er hat sich zum Ziel gesetzt, kranken Kindern wie Simon und Jugendliche ihre Wünsche zu erfüllen. Wünsche, die sich nicht rechnen!

 

Die rund 70 Ehrenamtliche und drei hauptamtliche Helferinnen und Helfer haben aber eine Erfahrung gemacht: Die Erfüllung eines lang gehegten Traumes trägt entscheidend dazu bei, dass die Kinder und Jugendliche ihre Leidenszeit besser bewältigen. Ob ein Treffen mit Prominenten, ein Aufenthalt auf einem Ponyhof, eine Heißluftballonfahrt oder aber eine schön ausgerichtete Geburtstagsfeier – jeder Wunsch wird ganz individuell und mit viel Engagement verwirklicht, auch wenn es nicht „sinnvoll“, nicht rational ist, sondern purer Luxus. Wie etwa ein Hubschrauberflug.

 

Simon ist eine Stunde lang in einem roten Helikopter im Sichtflug über das Ruhrgebiet geflogen. Bis zum Haus der Großmutter in Herten. Sie hat winkend auf der Straße gestanden.

 

Amen.