Andacht zum Tode Johannes Raus (2006 zu Lk 11,2 ~ Mt 6,10)

„Dein Reich komme“ – diese Bitte aus dem Vaterunser haben wir oft zusammen gebetet. Eigentlich täglich, wenn wir zusammen waren.  Die Bitte ist mehr noch als die Bitte um das tägliche Brot und die Vergebung der Schuld. Sie stellt uns vor die Machtfrage und die Bekenntnisfrage: Wem gehört die Welt? Wer herrscht über sie? Politische Führer? Das Geld? Eine Religion? Lässt sich die Welt sich privatisieren?

 

Wir bitten und bekennen: Möge die Welt alleine in Gottes Hände liegen: Möge sein Reich kommen. Sicher keine „Basilea“ vergleichbar mit Herrschaft und Macht oder gar in Form einer Theokratie. Sondern: Das Reich Gottes ist für mich schlicht und einfach die Welt, so wie Gott sie will. Wo „dein Wille geschehe.“

 

Das Reich Gottes alles andere als ein weltferner oder gar weltfeindlicher Begriff: Es findet, wenn es auch nicht von dieser Welt ist, doch mitten in dieser Welt statt.

 

Und hier kommen wir als seine Mitstreiter und Botschafter ins Spiel: Das Bitten um eine Welt, wie Gott sie will, ist das eine. Sich auffordern zu lassen, alles dafür zu versuchen, das andere – allzumal in unserer Rolle als „Berufschristen“:

Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.

Zufallen wird mir, was ich essen und trinken werde.

Zufallen wird mir der Ort, wo ich arbeite.

 

Das allererste Sorgen – diese Freiheit hat uns Gott beschert! – kann dem Sorgen um eine Welt, wie Gott sie will („Reich Gottes“), gelten und dem Trachten „nach seiner Gerechtigkeit“. Hier ist nicht die Gottesgerechtigkeit gemeint, sondern unser Handeln, unser Zutun, die Frage nach der Gerechtigkeit, nach der Menschen „hungert und dürstet“, nach der Gerechtigkeit, um deretwillen Menschen verfolgt sind.

 

Die Bezugsgröße unseres Sorgens ist das Reich Gottes, die Welt, wie Gott sie will: Unser Christsein ist damit auf die ganze Welt bezogen. Nicht auf die Kirche. Nicht auf Deutschland. Nicht auf Menschen mit Abitur.

 

Das ist auch der Kern dafür, dass mir Politik nicht egal sein kann, sondern christliche Existenz beides verbinden muss: politische Verantwortung und persönlichen Glauben. Johannes Rau hat einmal gesagt: „Wenn Christsein und Politik nicht geht, dann geht auch nicht Christsein und Ehemann oder Christsein und Unternehmersein. Entweder bewährt sich der christliche Glaube auf jedem Feld oder er taugt nichts.“

 

Dein Reich komme: Und schon die Bergpredigt gibt uns vieles auf, was noch heute aktuelle Herausforderungen sind. Sie dürfen nicht aus den Augen kommen: Wie ist es mit den zwei Herren, denen man nicht gleichzeitig dienen kann? – Johannes Rau hat öfters eindringlich davor gewarnt, alle Lebensbereiche zu ökonomisieren, nicht zuletzt weil damit ein Götzendienst geleistet wird:

„Wenn wir nicht nur die Wirtschaft, sondern die ganze Gesellschaft nach Marktgesichtspunkten interpretieren, dann bekommen wir Heranwachsende, die von allem den Preis kennen und von nichts den Wert.“ (Welt am Sonntag 2.1.2000)

 

Dein Reich komme: Es ist ein eschatologischer Satz, kein politisch-programmatischer. Und doch habe ich an Johannes Rau geschätzt, dass er auf seine Weise „Politik mit der Bibel“ gemacht hat. Selbstredend nicht biblizistisch. Aber eben sehr deutlich im Geiste der Bergpredigt:

  • Mit tiefen Gottvertrauen („weil ich gehalten bin“, Buchtitel N. Schneider).
  • Mit Visionen neben dem Tagesgeschäft – etwas, was auch der Kirche gut täte.
  • Schließlich: mit einer Haltung, die die Bergpredigt und das Trachten nach dem Reich Gottes wahrhaft universell und für alle Menschen gültig macht: die Nächstenliebe:

„Wir brauchen mehr als Bilanzen und Shareholder-Value, mehr als Gewinn-und-Verlust-Rechnungen. Das nennen Christen Nächstenliebe. Das nennt die Arbeiterbewegung Solidarität. Das nennt Martin Luther King compassion. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Begriffe. Und ich nenne das den Mörtel, der das Haus zusammenhält, damit es den Sturm übersteht. Und davon ist bei uns viel zu wenig vorhanden.“

 

So ist es. So bitten wir weiter: Dein Reich komme. Und trachten nach seinem Reich und nach seiner Gerechtigkeit. „Entscheidend ist, dass das, was man sagt und was man tut, im Anklang stehen.“