Weißt Du, wie viel Sternlein stehen (Gottesdienst für einsam Gestorbene)

Alle Jahre wieder … Wir trauern heute um Menschen, die ohne Angehörige bestattet wurden, weil sie keine Angehörige mehr haben. Oder die aus anderen Gründen einsam starben, allein lebend oder allein gelassen. Oder deren Angehörige weit entfernt leben und die nicht kommen konnten – oder wollten.

Gottesdienst für einsam Gestorbene

Weißt Du wie viel Sternlein stehen

Altena, Friedhof Breitenhagen, 7. September 2014

Wir trauern heute um Menschen, die in aller Stille begraben wurden, weil schlicht und ergreifend kein Geld für eine größere Feier da war. Acht Namen können wir gleich verlesen. Sie stehen aber auch stellvertretend für andere Verstorbene.

Es gilt genauso auch umgekehrt: Wir trauern heute mit Menschen, die noch keine Gelegenheit hatten, um einen Verstorbenen zu trauern. Weil die Trauerfeier im engsten Familienkreis stattfand, zu dem sie nicht gehören. Weil sie zur Beerdigung nicht konnten. Oder sich nicht hin trauten. Oder warum auch immer. Dafür haben wir einen neunten Stuhl aufgestellt.

 

Alle Jahre wieder – das bekannte Weihnachtslied stammt aus der Feder des Theologen Wilhelm Hey, der 1837 auch das Lied „Weisst du wie viel Sternlein stehen“ schrieb.

 

Ihm würde gefallen, dass wir heute hier sind, um uns genau dieser Hoffnung zu vergewissern: dass Gott alleine seine Sternlein gezählet hat, sie beim Namen kennt. Und dass wir die Menschen, so viel wie Sterne am Himmel, die Seinigen nennen können. „Dass ihm auch nicht eines fehlet …

 

Ihm würde das sicher sehr gefallen, denn Hey, evangelischer Hofpredifer in Gotha, engagierte sich für die Menschen seiner Zeit: er gründete eine Hilfskasse für Handwerker, betreute eine Fortbildungsschule für Lehrlinge und ein Kinderheim, um arbeitenden Müttern die Sorge um ihre Kinder abzunehmen. Alles noch vor den Anfängen der klassischen Diakonie – und als Ausdruck einer menschenzugewandten Theologie!

 

Denn: Gott ist ein menschenzugewandter Gott.

Ein Gott, der keinen vergisst.

Quasi ein verlässlicher und wahrer Datenschützer: „Gott, der Herr, hat sie gezählet …“

 

Alle Jahre wieder also bedenken wir, dass von Gott her kein Mensch vergessen werden soll – und wir es als Kirchen auch nicht tun wollen. Mischen wir uns da in das Selbstbestimmungsrecht des Menschen ein? Ist das bevormundende Nächstenliebe?

 

Wessen wir heute gedenken, hat nicht freiwillig entschieden, anonym bestattet zu werden. Es wurde behördlich angeordnet.

 

Das tatsächliche Dilemma ist auch: Keiner hat wohl diese Menschen gefragt, wo und wie sie bestattet werden wollten. Keiner war wohl – so wir wissen – bei ihrer Beisetzung.

 

Wir haben uns bewusst dazu entschieden, sie zu nennen. Auch, um ein Signal auszusenden, dass der Umgang mit den Toten viel über eine Gesellschaft ausdrückt, wie sie mit den Lebenden umgeht.

 

II.

Im gleichen Kapitel, bei Jesaja 40, lesen wir (Jes 40,26-31):

“Hebet eure Augen in die Höhe und sehet! Wer hat solche Dinge geschaffen und führt ihr Heer bei der Zahl heraus? Er ruft sie alle mit Namen; sein Vermögen und seine starke Kraft sind so groß, dass es nicht an einem fehlen kann. Warum sprichst du denn, Jacob, und du, Israel, sagst: Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber? Weißt du nicht? hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt; sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt den Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Die Knaben werden müde, und die Jünglinge fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.”

Liebe Gemeinde,

 

Jesaja redet das ganze Gottesvolk an, das vergessen und selbstvergessen verloren zu sein scheint. Damals, im 6. Jhd. v. Chr., verschleppt aus Israel nach Babylon, hat es alles verloren: den Tempel: Dort vergewisserte sich das Volk, dass Gott es aus Ägypten, aus der Knechtschaft, ins gelobnte Land geführt hatte. Dort vergewisserte es sich selbst, das auserwählte (das „gezählte“) Volk zu sein. Alles weg!

 

Nun in Babylon gab es nur düstere Gedanken: Hat Gott uns aufgegeben? Sind wir komplett vergessen? Wo ist er? Wie sollen wir uns verstehen, einst als geliebtes und erwähltes Volk? Gott tut nichts dafür, dass wir gerettet werden, dass wir aus dem Dunkel wieder ins Licht rücken.

 

Ohne Tempel, wandert der Blick nach oben an den Himmel (Hebt eure Augen in die Höhe): Heißt es im 1. Schöpfungsbericht nicht, das Gott die Sterne und Gestirne machte? Die Babylonier dachten, dass die Sterne Götter wären. Sollte der Gott Israels wirkmächtiger sein? Würde er sich vielleicht eben nicht nur im Tempel, der zerstört war, zeigen können, sondern als universell gegenwärtiger Gott, über allem anderen?

 

Weißt Du wie viel Sternlein stehen … Wir vergleichen heute mit diesem Lied Menschen mit den Sternen am Himmel, die Gott geschaffen hat – dieses Bild drückt den nicht endende Wert des Menschen an sich aus. Seine Kleinheit, aber gleichzeitig auch dass er ewig zum Kosmos gehört und in der Liebe des Schöpfers bleibt – hoch angesiedelt.

 

Ein Stern – ohne im Leben ein Star gewesen sein zu müssen. Ein geliebtes Wesen von Gott, das es verdient hat, beim Namen gerufen zu werden.

 

Er sammelt die Menschen, wie wir hörten, von allen Himmelsrichtungen, auch von vorne, selbst von Babylon. Weil er sie alle beim Namen rief.

 

Wir hören Jesaja, der an den Sternen die Gegenwart Gottes abliest, über alle sichtbaren Orte hinweg: damit auch über die Orte der Einsamkeit, des Dunkels, der Anfechtung und Verlassenheit. Dort oben am Himmel verbindet sich die Sehnsucht, dass alle Menschen gezählet sind, eingewoben in die gute Schöpfung, und daher kommen auch die Mücklein und die Fischlein in dem Lied von Wilhelm Hey vor. Als Ausdruck der guten Ordnung des Schöpfers, der alles mit Sinn versehen hat. Und Liebe. Und Obhut.

 

Alle Jahre wieder nennen wir also die Namen von Verstorbenen, deren Namen bisher nicht genannt wurden. Denn: Gott der Herr rief sie mit Namen, dass sie all ins Leben kamen.