Maria und Martha – und Jesus, der Christus, auf dem Weg nach Jerusalem. So alltäglich diese Begegnung ist, so sehr setzt sie Bilder frei. In der Kunst sitzt Maria meistens andächtig zu Füßen Jesu. Martha rackernd sich bei der Hausarbeit ab.
Predigt – Erlöserkirche Haltern, Sonntag Estomihi, 3. März 2019, Maria und Marta, Lk 10,38-42
Maria – oft mit einer aufgeschlagenen Bibel im Schoß, Martha hingegen mit Weinkrug im Arm, die Schürze umgebunden.
Solche Bilder sind auch in uns – und werden übertragen: Da ist die eine, die emanzipierte Frau, mit den Jüngern auf Augenhöhe, weil sie mit Jesus debattiert und autonom – man könnte auch sagen: egoistisch – alles drumherum vergisst. Und im Hintergrund das „Heimchen am Herd“, das fürs Essen sorgt.
Jahrhundertelang ist der Beitrag der Martha abgewertet worden: Als ob der Dienst bei Tische – griechisch übrigens: „Diakonie“ – weniger wert wäre als dem Hören des Wortes!
Jahrhundertelang stand der Maria-Dienst fürs typisch Evangelische: Bibelzeugnis und Predigt stehen vorneweg. Kirch ist, wenn das Wort Gottes rein gepredigt und die Sakramente evangeliumsgemäß gereicht werden, formulierte die Reformation. Dabei stellte die Reformation das Hören auf Gottes Wort aber gar nicht gegen die helfende Tat, sondern gegen die Lehrgebäude des Papstes.
Die Kirche stand Kirche jahrhundertlang eher bei Maria, selbst noch als Johann Hinrich Wichern die moderne Diakonie ausrief. Er proklamierte: “Die Liebe gehört mir wie der Glauben“, also: Gott kann man genauso mit dem Glaubensbekenntnis wie der helfenden Tat bekennen!
Die Martha hat es also dreifach schwer: schwere Hausarbeit, augenscheinlich weniger Akzeptanz bei Jesus – und dann ist sie oft noch irrtümlicherweise Kronzeugin Vorrangigkeit der Wortkirche vor der Diakonie…
II.
Ich finde: Die Geschichte von Maria und Martha ist viel zu fassettenreich und wunderbar, als dass man sie benutzen sollte oder könnte, um etwas über “Kirche und Diakonie” zu sagen. Die Unterscheidung gab es zur Zeit des Evangelisten Lukas noch gar nicht: keine unterschiedene Tätigkeiten, erst recht keine getrennten Bereiche.
In den Gemeinden, an die der Evangelist Lukas sein Evangelium richtete, waren beide, der Maria-Dienst und der Martha- Dienst, gleichermaßen von Nöten: Da gab es zum einen christliche Familien, die zu den ersten sesshaften Gemeinden gehörten. Deren Häuser, stand den umherwandernden Missionaren und Predigern offen. Das war weit mehr als Essenkochen (Hauswirtschaft als “„Oikonomia“): Die wandernden Christen wurden bewirtet, bekamen eine Schlafstelle. Ohne solche Gastfreundschaft – und die Hauptverantwortung lag bei den Frauen – hätte sich das Christentum niemals so schnell ausbreiten können.
Wenn Lukas also von Maria und Martha schreibt, werden seine Leser diese Erfahrung aus den eigenen Gemeinden vor Augen gehabt haben. Undenkbar für sie, dass der Tischdienst weniger wert gewesen wäre!
Wortgenau geht es auch darum, dass Maria das „gute Teil erwählt“ hat, nicht das „bessere Teil“. Und direkt vor „Maria und Martha“ schildert Lukas das Gleichnis vom Barmherzigen Samariters, die Geschichte des Tuns überhaupt…
III.
Worum geht es dann? – Das Lukasevangelium hat einen weiten Spannungsbogen: Nur Lukas erzählt ausführlich von der Geburt Jesu, und seine Apostelgeschichte verlängert die Passions- und Ostergeschichte bis in die Zeit der jungen Kirche. Lukas nimmt uns mit auf den Weg Jesu, von Bethlehem nach Jerusalem, auf den, den wir im Kirchenjahr symbolisch mitgehen: Weihnachten, Passionszeit, Osterzeit.
Auf diesem Weg gründet der Glauben an Jesus, dem Christus. Für diejenigen, die ihm begegnen, wird er Grund ihrer Hoffnung. Später Fundament der Kirche.
So ein entscheidender Moment ist auch die Begegnung mit Maria und Martha. Was “tut not”? Was ist jetzt dran? Was wird wichtig? – Die ganz ähnliche Frage wie vorher beim Barmherzigen Samariter: Was ist in diesem Moment dran? Helfen!
Bei Maria: Hören!
Mein Bild von der Szene: Maria sitzt wissbegierig an seiner Seite, saugt alles auf, ist aufs Äußerste gespannt, was Jesus Besonderes zu sagen hat. Warum kommt er gerade zu diesen Frauen?
Maria sitzt buchstäblich Jesus im Weg.
Im Hintergrund scheppert es, Jesus wird aufgefordert, dass er ihr doch sagen soll, Martha zu helfen – aber nein: Jesus erkennt und an-erkennt, was Maria jetzt wichtig ist. Das hebt er hoch: “Sie hat das [für sich] gute Teil erwählt!”
Wir kennen das doch alle von Familiengeburtstage, dass die Martha-Rolle immer verteilt ist: „Ich muss mal eben nach dem Braten gucken!“ – „Setz dich doch mal zu uns, sonst hast du ja nichts von deinen Gästen!“
Es gibt Pflegesituationen, in denen sich Ehepartner und Kinder erschöpfen im Tun, Unmengen an Dingen organisieren. Aber wann ist die Zeit zum Reden, was noch geregelt sein muss, bevor die Situation schlimmer wird? Was soll noch besprochen sein, oft nach gemeinsamen Jahren und Jahrzehnten? Da wünschte ich mir für Familien auch die Klarheit der Maria, sich zu setzen und zu hören – und wenn noch so viel drumherum zu tun ist oder zu tun wäre…
Auch in Kirchengemeinden gibts Maria und Marthas: Da schmücken Frauen den Altar oder die Kaffeetafel, da schleppt ein Küster unermüdlich schwere Stühle, und Finanzkirchmeister führen NKF ein – damit … ja damit … was eigentlich sein soll? Eigentlich soll bei allen Geschäften das Wort Gottes zu hören und zu erleben sein. Manchmal kommt man gar nicht so weit …
IV.
Daher – bei aller Geschäftigkeit der Martha – die Frage an uns aus Sicht der Maria: Was tut not, wenn wir in diesen Wochen Jesus nach Jerusalem folgen? Was brauchen wir von ihm, was würden wir ihn fragen, was wollten wir von ihm empfangen? Oder – ums jetzt doch einmal tendenziös zu fragen – werkeln wir weiter wie gewohnt?
Maria ergreift ihre wohl einmalige Chance: Jesus – einmal leibhaftig! Sie geht keinen Umweg, bricht mit Konventionen und Regeln der Höflichkeit. Womöglich hat Jesus einen knurrenden Magen. Das kümmert sie nicht – und das sieht Jesus. Und er sieht es wohlwollend.
Maria ist direkt, lebt den Moment, entscheidet unmittelbar. Ironischerweise ist sie damit dem Barmherzigen Samariter absolut nahe: Der tut auch das, was im Moment not ist, was dran ist – übrigens auch gegen alle Konventionen und Widerstände.
Lukas geht es nicht um eine Vorrangigkeit von Hören und Tun, sondern um die Frage, was jeweils dran ist. Nicht verrennen – so wie womöglich Martha. Nicht einmal ein Kompromiss (erst bereiten beide das Essen vor, dann hören beide Jesus zu). Nein, so ist es nicht!
Daher nochmals: Was tut not, wenn wir in diesen Wochen Jesus auf dem Weg nach Jerusalem folgen?
Was hören wir in diesem wunderbaren Lesungstext von der Liebe, die stärker ist sogar als Glaube und Hoffnung?
Welche Kraft fürs Leben geht von diesem Jesus von Nazareth aus? Was fehlte uns ohne ihn?
– Die Begegnung mit Maria ist mehr eine Twitterlänge, sondern echt “geteiltes” und “geliktes” Leben. Mehr Zeit, mehr Aufmerksamkeit für andere wünsche ich mir von mir selbst!
– Oder weiter auf dem Weg, als Jesus im Garten Getsemane betet: Er selbst erlebt völlige Gottverlassenheit! Aber genau darin ruft er ausgerechnet nach seinem Vater, als ob nur dieser die Antwort darauf sein könnte. Gott dann zu suchen, wenn er uns abhanden gekommen ist – das wäre etwas für eine säkularer werdende Gesellschaft, auch immer wieder ein Neuaufbruch für eine kleiner werdende Kirche!
– Dass Jesus wird verraten und verkauft wird: Er stirbt als Verbrecher am Kreuz. Damit stehen wir als Christinnen und Christen in der Nachfolge eines faktisch Gescheiterten. Wer beruft sich schon auf einen gefallenen Helden? Größer könnte die Befreiung doch nicht sein, wo heute der Mensch optimiert und perfektioniert wird, und dann, wenn wir erleben, was Menschen Menschen antun, Fassungslosigkeit in blinden Hass umschlägt. Das passiert täglich, weil wir keinen realistischen Blick mehr auf den Menschen haben, der seine Grenzen, sein Scheitern, sein Lieben und Versöhnen zusammenbringt.
Was tut not?
Maria sitzt Jesus wortwörtlich im Weg.
Wir sitzen dort auch, so wie wir andernorts und in anderen Momenten tun und machen. Wir kommen diesem Jesus nahe, dem “Licht der Welt”. “Welch ein Grund zur Freude!” (EG 401,1). Das tut not. Das ist heute – wenn auch nicht grundsätzliche das bessere – doch das gute Teil.