Unerhört! – Dialog zur Diakonie-Kampagne

Michael, Helmut, Bartimäus – drei unerhörte Geschichten – keine Geschichten mit geraden Wegen, mitnichten Erfolgsstorys. Und viele Zeitgenossen wollen solche Geschichten auch gar nicht mehr hören. Jede dieser Geschichten – nicht nur die biblische – ist für mich eine Wundergeschichte: Wie viel Kraft benötigt man, um Rückschläge, ja Abstürze im Leben zu überstehen?

Geschichte von Michael & Helmut: im Gottesdienst-Skript 

Programmheft

Wie viel Mut gehört dazu, so detailliert davon erzählen zu lassen? Welche heilsamen Begegnungen gab es, damit die jeweilige Geschichte nicht in der Katastrophe endete?

Neben mir steht Thomas Schiller, Leiter des Zentrums Kommunikation der Diakonie Deutschland. Wir wollen versuchen, die Geschichten mit der Kampagnen-Idee zusammenzubringen.

Bleiben wir zunächst bei Bartimäus. Als Blinder ist er Bettler und außen vor. Er sitzt buchstäblich am “Rand”, am Straßenrand in der Gosse. Eine große Menge schart sich um Jesus. Sie wollen ihn sicher reden hören. – Ist das nicht schon das erste Wunder?! Bartimäus lässt sich nicht von diesem Ort vertreiben, wo Interessantes passiert und das Leben pulsiert! Ganz im Gegenteil: Er macht sogar lautstark auf sich aufmerksam!

 

Thomas Schiller

Bartimäus, das ist einer, der nervt. Der nicht mehr mitkommt. Der den ganzen Tag herumsitzt. Der nichts tun kann. Der andere höchstens noch von der Arbeit abhält – und der sich dann noch reindrängt, als Jesus kommt, den so viele hören wollen. Der stört.

 

Doch die Geschichte schlägt um. Jesus fragt ausgerechnet ihn: „Was willst Du, das ich für Dich tun soll?“ Jesus weiß: Jede Lebensgeschichte hat ein Recht darauf, gehört zu werden. Gerade von denen, die sich an den Rand gedrängt fühlen. Auch sie haben etwas zu sagen.

 

Dietmar Kehlbreier:

Die Reaktion der breiten Masse: Die Leute wollen nicht Bartimäus hören, sondern Jesus. Da stört das Rufen des Bartimäus nur. Ich stelle mir vor, dass sie sich um Jesus drängen,  dem Bartimäus den Rücken kehren und den Weg zu Jesus abschneiden: “Wir sind die Mitte, Du der Rand.”

 

Die Reaktion der Menge kennen wir: Sie schimpfen und empören sich. Wie kann “dieser da” jetzt mit seiner Geschichte kommen?!

 

Thomas Schiller:

Empörung, die erleben wir ja auch heute. Jeder kann eine Geschichte davon erzählen, dass „die da oben“ nichts auf die Reihe kriegen. Politiker, Bürokraten, Eliten, die einem das Leben schwer machen. Die sozialen Netzwerke sind voll mit solchen Geschichten und angeblichen Skandälchen.

 

Die meisten, die sich aufregen und böse Kommentare ablassen, übersehen dabei aber die wirklichen Skandale in unserer Gesellschaft: die Armut – gerade unter Kindern. Die Familien, die aus dem Hartz-IV-Teufelskreis nun schon über Generationen nicht rauskommen. Die Obdachlosen. Die Flüchtlinge. Sie werden oft Opfer von Beschimpfungen, Sündenböcke.

 

Dietmar Kehlbreier

Haben Sie Verständnis dafür, dass die Menge so schroff reagiert? Zur Zeit Jesu war das wohl “Mitte der Gesellschaft”, die sich auch “ungehört” fühlte..

 

Thomas Schiller:

Das kann durchaus sein. Die „Unerhörten“, das sind nicht nur die sozialen Randgruppen. Sondern es sind auch Menschen, für die heute manches zu schnell geht. Die nicht mehr klarkommen mit dem rasant wandelnden Fortschritt in Technik und Beruf. Die nicht mehr klarkommen mit den vielen Veränderungen in ihrem alten Wohnviertel. Die nicht wissen, ob die Rente mal reicht. Und die für ihre berechtigten Sorgen im Rathaus oder in der Politik kein Ohr gefunden haben.

 

Manche von ihnen haben aus dem Wahlzettel einen Denkzettel gemacht und ihr Kreuz bei Parteien, die eigentlich ein ganz anderes Menschenbild haben – eines, dass den Werten der Diakonie widerspricht. Diesen Protestwählern müssen wir zuhören, mit ihnen diskutieren und sie in die Mitte der Gesellschaft zurückholen, indem wir uns mit ihnen auf die Suche nach Problemlösungen machen. Das kann kompliziert sein. Aber lautstark verkündete einfache Lösungen reichen im wirklichen Leben nicht weit.

 

Dietmar Kehlbreier

Bartimäus lässt sich nicht abbringen und ruft umso lauter: “Jesus, Sohn Davids, erbarme dich!” – Das nächste Wunder, wie ich finde: Er lässt nicht locker. Er entwickelt in seiner Verzweiflung umso mehr Kraft und Wille. Das höre ich auch in den Geschichten von Helmut und Michael.

 

Sie haben in der Kampagne schon einige Geschichten gesammelt: Ist so ein Lebenswille das eigentlich Faszinierende?

 

Thomas Schiller:

Wir haben für die Unerhört-Kampagne viele Beispiele gesammelt und ins Internet gestellt. Etwa vom alkoholkranken Thomas, der dennoch die Kraft hat, Selbsthilfegruppen zu organisieren. Oder von Marita, die ihren eigenen Vater nun im Alter pflegt, obwohl sie von ihm als Mädchen missbraucht worden ist. Diese und viele andere Lebensgeschichten kann man auf www.unerhört.de nachhören und lesen. Und Menschen bewundern, die trotz ihrer Krisen den Mut zum Leben wiedergefunden haben.

 

Dietmar Kehlbreier

Das nächste Wunder betrifft nun nicht Bartimäus, sondern die Leute: Jesus bleibt stehen. Er könnte jetzt den Blinden einfach zu sich rufen und ihn heilen. Macht er aber nicht, sondern wendet sich an die Leute: “Ruft [ihr] ihn her!” – Soll heißen: Öffnet den Kreis! Dreht euch um, wendet Euern Blick zu dem, der mich ruft und bisher von euch unerhört blieb! – Es wäre für Jesus ein Leichtes, den Bartimäus selber zu rufen, aber was würde es ändern? Er bindet die Leute mit ein, animiert sie zu einem veränderten Blick. Sie sind nicht Kulisse dieser Wundergeschichte, sondern werden Akteure …

 

Thomas Schiller:

Wir müssen natürlich den Hilfesuchenden zuhören. Ihr Problem erkennen und sie nicht schon vorher mit fertigen Lösungsrezepten überrumpeln. Aber das Problem geht viel weiter: Wir müssen in der ganzen Gesellschaft wieder stärker zuhören. In der Politik. In den Medien. In der Kirche. Deswegen gehen wir mit der Kampagne „Unerhört“ ja auch in die breite Öffentlichkeit und sind nicht nur innerhalb der Diakonie unterwegs.

 

Für ein demokratisches Miteinander ist es unerlässlich, erst einmal einander wieder zuzuhören, respektvoll miteinander umzugehen und füreinander einzustehen. Wir brauchen die offene Gesellschaft, in der sich auch die breite Mitte nicht meckernd zurückzieht, sondern mit anpackt. In der Nachbarschaft, im Verein, in der Gemeinde. Gerade die Diakonie bietet da eine Vielzahl von Möglichkeiten, sich ehrenamtlich zu engagieren.

 

Dietmar Kehlbreier

Für mich ist der Höhepunkt der Geschichte, dass die Leute tatsächlich den Bartimäus zu Jesus schicken mit der Aufforderung: Sei getrost (Luther 2017)! Also: Hab Mut, hab keine Angst! “Er ruft dich!”

 

Die Menge hat also plötzlich einen entscheidenden Anteil daran, dass Bartimäus mit Jesus in Berührung kommt.

 

Jesus heilt ihn, ein letztes Wunder in dieser Geschichte. –

 

Wo sehen Sie denn eigentlich die Diakonie in dieser Geschichte? Ist sie als Wohlfahrtsverband unter den Leuten und versucht zu bewirken, dass die Randständigen aus der Mitte der Gesellschaft heraus die nötige Unterstützungen bekommt? Definiert sie sich über die praktische Hilfe, also stünde sie in dieser Geschichte eher bei Jesus? Oder ist Diakonie von Anfang an dicht an der Seite des Blinden selber?

 

Thomas Schiller

Sowohl als auch. Als Diakonie hören wir nicht nur hin, wir engagieren uns auch für hilfebedürftige Menschen, so wie Sie das zum Beispiel in der Wohnungslosenhilfe in Herten tun.

 

Auf politischer Ebene übernehmen wir die Anwaltschaft für die Schwächsten, dort sehe ich uns in der Nachfolge Jesu. Er hat die Liebe und Gerechtigkeit Gottes vor allem denen verkündigt, die sie besonders nötig haben.

 

Dietmar Kehlbreier

Am Ende zieht Bartimäus mit Jesus mit. Ihm ist von Anfang an ein unbändiger Lebenswille geschenkt. Schon als er Jesus um Erbarmen bittet, wird dieses Vertrauen, sein Glaube, sichtbar.

 

Er glaubt daran, dass Jesus ihm die Achtung und Würde verschafft, die er zum Leben braucht. Daher schwingt von Anfang an mit (und das habe ich in den Geschichten von Helmut und Michael auch gehört): Neben der eigentlichen Hilfe – der Heilung – geht der Glaube mit, dass ich zur Mitte gehöre. Und ich habe den Glauben, dass die Leute zuhören, nicht verurteilt. Dass meine Geschichte interessiert. Dass Gott eine Geschichte mit mir hat, die notfalls sogar andere Menschen für mich zur Sprache bringen. Amen.