Gedenkt! (Gedenktag zur Befreiung von Ausschwitz)

Gedenkstättenfahrt 1993 nach Ausschwitz (50 Jahre nach dem Ghettoaufstand in Warschau: Expertentagung von Historikern: Wie man die Erinnerung wachhält, wo die Zeitzeugen langsam aussterben ….

Predigt – Lutherkirche Altena

Sonntag Septuagesemae (GedenktagBefreiung Auschwitz)

Ps 98,3a

 

Wo die Bundesrepublik sich nicht wie andere Nationen an der Erhaltung der verrottenden Gedenkstätte einsetzte.

 

„Wohin nach Auschwitz? Nach Auschwitz!“

 

Flankiert von einer Jugendgruppe: als Multiplikatoren. In einer Zeit, wo in Rostock und Mölln, in Solingen ausländerfeindliche Übergriffe und Rechtsextremismus aufkamen).

 

Tag im Lager: Baracken, Lager mit Schuhen, Brillen, …

Hinweis auf den Ort, an dem Deutsche industriemäßig Menschen vergast haben: Juden, Linke, Homosexuelle, Sinti und Roma, Osteuropäer.

 

Auschwitz: Synonym für alles Undenkbare, was Menschen einander antun können. Gleichzeitig: der konkrete Ort, wo dies in den 1940er-Jahren passierte. Durch mein Volk.

 

Präses Peter Beier: Ein Text, der sich mir tief eingebrannt hat:

 

„Gedenkt!

Erinnert nicht nur!

Erinnerung atmet flach.

Erinnerung spielt sentimental.

Gedenken arbeitet schwer, und ist ein Werk des Glaubens, der weiß: Vergangenheit ist nie vergangen. Tote sind nicht nur tot, in meinem Haus wohnt das Gestern,

und die Zukunft braucht ein langes Gedächtnis.“

 

 

II.

Gedenkt! Nicht einfach nur erinnern!

Mit Erinnerungskultur aufgewachsen:

 

Familienurlaube: Gedenkstätten und Konzentrationslager besucht. Das Grab Bonhoeffers.

 

Später: Kränken niedergelegt in osteuropäischen Ländern.

Reden zugehört … Begegnungsfahrten nach Osteuropa …

 

In der Schule es durchgekaut: das Judentum in Religion und die Geschichte Bonhoeffers, die „Blechtrommel“ im Deutschunterricht, totalitäre Staatsformen in Politik. Und das ganze noch einmal im Geschichtskurs …

 

Volkstrauertagen rede ich nun selber …

Alles gegen das Vergessen …

 

Was heißt heute „Gedenken“, nicht einfach nur „erinnern“?

 

Die Schriftstellerin Iris Hanika hat mal von Vergangenheitsbewirtschaftung gesprochen statt von Vergangenheitsbewältigung:

 

Wir haben eine Informationsflut über das, was war. Aber doch sind wir recht ahnungslos, 68 Jahre nach der Befreiung Auschwitz‘. Einer Umfrage zufolge können 21 Prozent der 18- bis 30-Jährigen den Begriff „Auschwitz“ nicht einordnen, gleichzeitig klagen Schüler darüber, im Schulunterricht viel zu viel über den Nationalsozialismus zu hören.

Ältere reagieren oft wirsch: Das muss doch jetzt mal vorbei sein … Was genau? Was passiert ist, lässt sich nicht ändern („Vergangenheit ist nie vergangen“).

 

Was hieße heute „Gedenken“, nicht einfach nur „erinnern“?

 

Zeitzeugen leben kaum noch.

Es gibt einen anderen emotionalen Zugang zum Thema: Die 1968er-Generation setze sich noch direkt mit der Elterngeneration auseinander und fragte: An welcher Stelle wart Ihr im System?

 

Heute ist eine gewisse Distanz, auch emotionale Distanz (bei Schülern) doch ganz natürlich, weil die Zeit weiter weg rückt.

 

Die Aktualität von dem, wofür der Ort Auschwitz steht und was er ausdrückt, ist immer wieder neu für unsere Zeit zu bestimmen – ohne die Einmaligkeit dessen, was dort passiert ist, relativiert wird. (Beier > Gedenkt, nicht einfach nur erinnern: Ergreift es für euch, durchdringt es für euer Leben!)

 

III.

Gott gedenkt seiner Gnade und Treue für das Haus Israels

Gott erinnert sich nicht nur einfach an seine Versprechungen, seinem Volk treu zu sein. Er „gedenkt“ seiner Gnade und Treue. Der Psalmbeter geht davon aus: Gott überträgt seine Verheißung von einst in eine neue Situation (Exilszeit?). Er lässt sich von einer neuen Situation neu anstiften, seinen Versprechungen neuen Klang und neuen Raum zu geben. „Erinnerung“ allein wäre unverbunden mit der Gegenwart. Würde nichts austragen, würde nicht den neuen Himmel nach vorne, in die Zukunft, öffnen, sondern im Vergangenen bleiben. Im Vergangenen, das keine Bedeutung für heute und morgen hätte…

 

IV.

Gedenkt also! Verliert Euch nicht in der Erinnerung!

Was entdecken wir, wo wir als Befreite und Gerechtfertigte mutig und tapfer sagen können: Vorsicht! Wir haben eine Geschichte und warnen und verändern etwas heilsam!

 

Wie ist das mit Sinti und Roma? – Oft hören wir in ihrem Zusammenhang, dass es für Wirtschaftsflüchtlinge zu einfach wäre, nach Deutschland zu kommen, auch Sinti und Roma nur zum Abkassieren kämen oder kriminell würden. – Aus welch erbärmlichen Verhältnissen Menschen aus Mazedonien und Serbien fliehen mussten nach dem Krieg dort – das ist uns kaum vor Augen, viel zu schnell erliegen wir diskriminierenden Vorurteilen.

In Berlin, wo eine Großfamilie von Sinti und Roma einen ganzen Wohnblock bezogen hat, waren die Vorurteile groß. Bis ein Mitarbeiter der Baugesellschaft sich persönlich um Spenden gekümmert, Ehrenamtliche fand, die die Wohnungen hergerichtet haben, gestrichen und tapeziert haben – und alles gingt gut. Die Vorurteile fielen. – Übrigens: Ein eigenes Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma gibt es erst seit wenigen Monaten!

 

Oder ein anderes Beispiel: Russland beschließt in diesen Tagen Gesetze gegen Homosexuelle, die nicht mehr für ihre Rechte demonstrieren dürfen oder sich in der Öffentlichkeit zeigen dürfen. Wie klingt uns eigentlich in den Ohren, wenn ein Gesetz in einem europäischen Land lautet „Zum Schutz der Bevölkerung des Kalingrader Gebiets vor Informationsprodukten, die der geistig-moralischen Entwicklung schaden“? So ähnlich lauteten die nationalsozialistischen Gesetze zur Rassenhygiene.

 

Gedenkt also! Verliert Euch nicht einfach in der Erinnerung!

Es kann so einfach beginnen: Plötzlich reden alle wieder über die Diskriminierung von Frauen und über Sexismus, – nicht weil ein Spitzenpolitiker gegenüber einer Frau ausfallend wurde, sondern weil die Journalistin den Mut hatte, die Diskriminierung publik zu machen!

Erst lehnt ein katholisches Krankenhaus die Behandlung eines potentiellen Vergewaltigungsopfers ab – und dann kommt nach und nach heraus, welch ein Klima der Angst bei Ärzten und selbst den Krankenhausträgern dahinter steckt: Fundamentalistische Katholikinnen haben sich vorher in Kliniken eingeschlichen unter dem Vorwand, dass ihnen so etwas passiert ist, um zu überprüfen, ob die rechte Lehre eingehalten wird. Ein Klima der Denunziation und letztlich eine purer Verachtung der Not von Menschen!

 

V.

Ein letztes Beispiel: Ich werde oft auf die Handengel angesprochen, die wir zu den runden Geburtstagsbesuchen mitbringen und die aus der bisher einzigen Behindertenwerkstatt Russlands stammen.

Die Initiative Pskow, getragen von Christen aus dem Rheinland, hat sich damals auf eine Initiative Peter Beiers gegründet: Lasst uns zum 8. Mai 1995, also 50 Jahre nach Kriegsende, nach Russland fahren und unsere Hand zur Versöhnung reichen. Gesagt getan! – Man suchte sich Pskow aus, zwischen St. Petersburg und Moskau, eine Stadt, der die Deutschen im Zweiten Weltkrieg besonders zusetzten. Und man entschied, etwas für diejenigen Menschen zu tun, die auch heute kaum im Blick sind: die Behinderten. – Es liegt im christlich-jüdischen Menschenbild, dass Gott ihrer genauso gedenkt und Treue und Liebe versprochen hat wie allen anderen!

Dieses Projekt initiierten hauptsächlich Menschen aus einer Generation, die den Nationalsozialismus selber noch erlebten, und wenn es als Kinder war. Die als gerechtfertigte, freie Christen etwas Gutes tun wollten. Sie bauten eine Behindertenwerkstatt.

 

Inzwischen hat sich etwas verändert: Nicht nur, dass Einrichtungen für entwicklungsgestörte Kinder dazu gekommen sind, für Alte und Sterbende, für Waisenkinder. Nein, inzwischen ist der Gedanke zu helfen nicht mehr der Versöhnungsgedanke, sondern schlicht der diakonische Gedanke. Das schlichte Helfen.

 

Denn Auschwitz, der Zweite Weltkrieg, ist nicht mehr der Punkt – wohl aber die Lehre daraus: dass kein Mensch für weniger wert erklärt werden kann als ein anderer. Dass nie vergessen werden darf, was Menschen einander antun, weil die Einen meinen, die Anderen als weniger wert zu bezeichnen.

 

Für mich ist das der rote Faden – eine schlichte Erkenntnis, die aber achtsam und aufmerksam machen kann für alles, was zur Diskriminierung führen kann, zur Bekämpfung, zum Morden.

 

Eine Überlebende von Auschwitz, die polnische Jüdin Halina Birnbaum, die ich bei der Fahrt 1993 in Auschwitz kennen lernte, schreibt im letzten Absatz ihres Buches genau von dieser einfachen, aber fundamentale Erkenntnis: „Als mein erste Sohn geboren wurde, dachte ich: Wieviel Leiden kostet die Geburt eines Menschen – und mit welcher Leichtigkeit haben diese Verbrecher Millionen ermordet!“

 

Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 68 Jahren ist eine Befreiung vom Irrglauben, dass ein Mensch wertvoller sei als der andere. Dessen lasst uns gedenken!