Zurücklassen (Altjahresabend 2011 zu Ex 13,20-22)

Der letzte Kalendertag: Um Mitternacht beginnt ein neues Jahr. Damit etwas Neues. Ein Einschnitt – womöglich mit dem Zauber eines Neuanfangs. Mit neuen Herausforderungen, mit guten Vorsätzen. Mit einem seufzenden Gedanken: Wie schnell doch 2011 verflogen ist?!

Predigt – Luther-Kirche Altena

Altjahresabend 2011 #Ex 13,20-22

20 So zogen sie [die Israeliten] aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. 21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. 22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. (Ex 13,17-20)

Man braucht nur Stichworte nennen: Fukushima, Plagiat, Euro, Zwickauer Zelle, Utöya, Bunga Bunga, heja BVB. Oder auf Altena bezogen: Lenneterassen, Burgaufzug, Gemeinschaftsschule, Rosmart.

 

Es gäbe viele Stichworte für unsere Gemeinde. Und jede und jeder hat eigenen Gedanken für 2011. Je nach dem, was damit verbunden ist, sehnt er sich nach Abschluss und nach Loslassen oder nach Fortsetzung und Festhalten.

 

Können wir 2011 einfach zurücklassen?

 

II.

Diese Frage führt uns zum Predigttext zurück. Er steht im Herzen der 5 Bücher Mose, der Geschichte Israels von Abraham an bis zum Blick des alternden Moses auf das Verheißende Land. Abraham wird das Land verheißen (Gen 12), und eine Familie von Isaak und Rebekka, von Jakob und Rahel und den zwölf Söhnen, die zum großen Volk werden sollen.

 

Das Volk lebt seit der Zeit Josefs in Ägypten. Als der König wechselt, fällt Israel in die Sklaverei, geknechtet und unterdrückt. Was soll werden aus dem Volk Gottes? – Mose wird bestimmt, nein, er wird von Gott selbst am brennenden Dornbusch berufen, sein Volk aus Ägypten ins Gelobte Land zu führen. Gott verspricht, sein Volk zu befreien – und als der Pharao hartherzig bleibt, schickt Gott zehn Plagen über Ägypten – bis hin zur brutalen letzten Plage, der Tötung der Erstgeborenen Ägyptens. Die roten Türpfosten, gekennzeichnet vom Blut der Lämmer zum Passafest, verschonen die Israeliten.

Musste das alles passieren, bis der Pharao endlich einlenkte?

Hals über Kopf flieht das Volk Israel als Ägypten, nicht mal der Brotteig für den Proviant ist durchsäuert. Das Volk packt den rohen Teig zusammen – Grund für das Fest der Ungesäuerten Brot, dem jüdischen Passahfest, bis heute.

Um den Krieg mit den verfeindeten Philistern zu vermeiden, wählt Mose den Weg durch die Wüste, von Sukkot aus bis nach Etam.

 

21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. 22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. (Ex 13,17-20)

 

Wenn wir die Zeit um den Jahreswechsel „zwischen den Jahren“ nennen, dann ist dieser Moment in der Befreiungsgeschichte Israels auch „zwischen den Zeiten“, sogar „zwischen allen Stühlen“: Die Flucht ist gelungen, aber schon im nächsten Moment hetzen die Streitwagen der Ägypter hinter dem Volk her, bis Israel durchs Schilfmeer zieht und gerettet wird (Ex 14). Ägypten liegt hinter dem Volk, doch vor dem Volk liegt die Wüste: 40 Jahre dauert es, bis es das Gelobte Land erreicht.

 

III.

Und nun wieder die Frage an uns? Können wir 2011 einfach hinter uns lassen?

In der Befreiungsgeschichte Israel entdecke ich, dass die Vergangenheit immer mitzieht: Das Volk ist geprägt von dem, was war: Es war so lange unfrei und gefangen, dass es sich in der Unwägbarkeit der Wüste schnell wieder an die Fleischtöpfe Ägyptens zurücksehnt, an die trügerische Sicherheit der Unfreiheit. Das schüttelt man nicht einfach aus den Kleidern! Was war, zieht mit, in den Gedanken, im Verhalten.

Ich lerne an der Geschichte Israels: Auch die Narben und Wunden gehören zum Leben. Sie prägen. Aber sie prägen auch im Positiven, wenn der erste Schmerz einmal überwunden ist: Immer wieder erinnern Aaron und Mose im weiteren Verlauf das Volk daran, dass Gott vor allem gerettet hat. Als Mose die Zehn Gebote erhält, heißt deren Überschrift: „So spricht der Herr dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Sklaverei befreit hat.“

Würde Israel am Wüstenrand einfach die Vergangenheit abschließen – und würden auch wir das tun –, dann schnitten wir auch die alten Verheißungen Gottes und die alten Erfüllungen ab, an die man sich heilsam erinnern kann.

Oft sagen mir Menschen: „Im Nachhinein haben wir erfahren, dass wir von Gott geführt und begleitet waren.“

Ich bin mir sicher, dass wir uns an Momente in 2011 erinnern oder erinnern werden, in denen uns Gott geführt und begleitet hat. Diese Erinnerungen möchte ich nicht missen.

 

Was wir aber getrost können: Wir können Gott das Jahr 2011 in seine Hände zurücklegen – mit allen Erinnerungen und Prägungen, im Positiven wie im Negativen. Nicht nur zum Jahreswechsel, an jedem Tag, zu jeder Stunde ist ein Neubeginn möglich. Befreiung von Schuld, weil Gott gnädig ist. Ent-Lastung, weil Gott für uns da ist.

 

IV.

Dass Gott treu und nah ist – das alles wird hier deutlich in der Feuer- und Wolkensäule.

 

Gott schreitet voran. In einer alten jüdischen Tradition geht der Vater mit einer Fackel voran, der Sohn folgt, oder es der König voran und das Volk folgt. Dieses Bild wird hier für Gott verwandt.

 

Gott brennt voller Liebe und Leidenschaft und Gerechtigkeit. Das Feuer der Feuersäule steht schon für die liebevolle Zusage an Mose an brennenden Dornbusch: Ich bin für dich da! Für die Leidenschaft Gottes für sein Volk, das in der 7. Plage Hagel und Feuer vom Himmel über den Macht lüsternen Pharao bringt. Gott brennt für die Gerechtigkeit, denn er erscheint Mose in einem Feuer, bevor dieser in der Wüste die Zehn Gebote erhält.

 

Die Wolkensäule ist das Zeichen für den Tag. – Keine Stunde soll es fortan geben, an dem Gottes Nähe nicht sichtbar und spürbar wäre!

 

Liebe Gemeinde,

hier halte ich ein: Denn uns plagt ja oft – geradezu auch an so markanten Wegmarken wie einem Jahreswechsel – die bange Frage: Wie sehen wir Gottes Nähe eigentlich?

 

Unsere Gemeinde, unsere Kirche hat im vergangenen Jahr immer wieder darum gerungen: Wo ist Gott eigentlich? Wie ist er spürbar? Indem wir uns ins Kontemplativen zurückziehen, in die Stille, ins Gebet? Oder indem wir aktiv werden und in der tätigen Nächstenliebe, diakonisch, von Gott zeugen? Beides tut not! – Müssen wir Glaubenskurse anbieten, damit wir Menschen näher zu Gott bringen? Oder ist es gerade der falsche Weg, weil wir über Gott nicht verfügen können? Schaffen wir es vielmehr, uns selbst als Suchende zu verstehen, die offen sind für Gottes Wort? – Hier kommen wir Gott wohl am nächsten! Aber wie zähmen wir unsere Zweifel und unsere Ungeduld?

 

Das Volk Israel wird nicht frei gewesen sein von diesen Fragen. Und ob die Feuer- und Wolkensäule vielleicht nur ein erzählerischer Trick im Nachhinein war? Wer weiß. Aber sie ziehen ihren Weg. Sie lassen sich ein auf einen Weg.

 

Gottes Gegenwart ist nicht auf einen Ort fixiert und begrenzt, sondern seine Nähe wird sichtbar „auf dem Wege“. Dass sich die Verheißung von Land erst nach 40 Jahren erfüllen soll – also zwei Generationen später, so dass kaum einer der Wüstenwanderer es erleben wird – das ahnt keiner. Dafür erlebt das Volk in der Wüste, wie Gott vor Hunger und Durst bewahrt. Es wird beschenkt mit den Zehn Geboten. Alles auf dem Weg – alles schon Erfüllungen.

Der Blick geht erinnernd zurück: Diese Bewahrung war wie einst in Ägypten! Und der Blick geht nach vorn: Die Gebote sollen nicht nur in der Wüste helfen, sondern die Grundordnung des Staates im Gelobten Land werden.

Mittendrin wird Gott sichtbar, weil das Volk ihm vertraut.

 

V.

„Kommen Sie gut ins neue Jahr!“, wünschte ich gestern jemanden. „Kommen Sie gut durch“, war die Antwort. „Kommen sie gut durch. Das ist viel wichtiger!“

 

Tatsächlich: Es geht nicht um diesen Punkt, dass sich heute um 24 Uhr die Kalender umstellen. Es geht um den Weg. Gott hat ihn schon bis hierhin begleitet und tut es fortan – wie immer unsere Feuer- und Wolkensäule als Orientierungsmarke und Schutz aussehen mag.

 

Vertrauen wir in Gottes gute Mächte, von denen wir schon wunderbar geborgen wurden und geborgen sind und erwarten wir getrost, was kommen mag.