Gegen die Angst (16. So. n. Tr. 2005 zu Klgl 3,22-26)

In Deutschland erkranken jedes Jahr 12 Millionen Menschen an einer Angststörung. 81% der Deutschen haben Angst vor Arbeitslosigkeit, im Nachbarland Niederlande sind es nur 8%. „German Angst“ ist inzwischen ein Schlagwort geworden in der ganzen Welt.

Predigt – Ev. Kirche Villigst

Sonntag: 16. So. n. Trinitatis Datum: 11.9.2005

Die Angst & Gottes täglich neue Güte / #Klgl 3,22-26.31-32

Unentwegt plagen uns Sorgen: Ist meine Rente sicher? Droht Arbeitslosigkeit? Werden die Eltern vielleicht bald pflegebedürftig? Erhalten die Kinder auf ihre Bewerbungen nur Absagen? Schaffe ich die Schule?

 

„German Angst“: Es gibt keine Sicherheiten mehr, so scheint es, keine Zukunftsvisionen mehr.

 

Was wird nicht alles im Wahlkampf beklagt: Während die eine Partei für „Vertrauen“ wirbt, setzt die andere bewusst auf Negativbilder, die Angst machen sollen:

„6 Millionen neue Schulden pro Stunde.“

„Jeden Tag 1000 Jobs weniger.“

 

Und selbst der zur Neutralität verpflichtete Bundespräsident stimmte zuletzt ein geradezu apokalyptisches Klagelied an: „Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel.“

 

Wenn’s so ist, macht mir das Angst. Und selbst dann, wenn’s nicht stimmt, macht es mir Angst! Weil Angst irrational ist und gezielt von anderen erzeugt werden kann.

 

 

II.

 

Die „Klagelieder Jeremias“, in denen der heutige Predigttext steht, passen gut in die Stimmung der „German Angst“ – und gut zum heutigen 11. September. Dieser Tag steht ja auch für einen Großteil unserer Angst und für die Verletzbarkeit unserer modernen Zivilisation.

 

In den Klageliedern Jeremias klagt auch ein Volk sein Leid und seine Angst: das Volk Israel, im 6. Jhd. v. Chr. außerhalb der Heimat, im babylonischen Exil.

 

Dort herrscht Angst: Es gibt es keine Sicherheiten mehr: Der Tempel, der Jahrhunderte die Identität ausmachte – zerstört. Die Elite der Gesellschaft, die Politiker, Philosophen, Schriftsteller – abgesetzt und bedeutungslos. Die militärische Lage –aussichtslos.

 

Dort herrscht Angst: Es gibt es keine Zukunftsvisionen: Es wächst die dritte Generation heran, die das Gelobte Land nie sah. Gibt es jemals wieder ein Zurück?

 

Klagelieder werden angestimmt in Babylon. Aber mit mindestens drei großen Unterschieden zum Wehklagen unserer Zeit:

  • Nicht „von oben“ wird geklagt, sondern das einfache Volk, das weiß, wovon es spricht, klagt.
  • Nicht um neue Angst zu schüren, wird geklagt, sondern um die Angst zu überwinden wird geklagt.
  • Und der dritte Unterschied: Bei aller Klage, bei aller Angst siegt die Zuversicht, nicht die tiefe Depression: Deshalb klingt das Klagelied des Jeremia kraftvoll und kämpferisch, ja fast wie ein Gotteslob:

 

Klgl 3, 22 Die Güte des HERRN ist’s, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, [a]

23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

24 Der HERR [a] ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.

25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.

26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und [a] auf die Hilfe des HERRN hoffen.

31 [a] Denn der HERR verstößt nicht ewig;

32 sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

 

III.

  1. a) Diese Klage will nicht neue Angst schüren, sondern die Angst überwinden helfen: „Noch sind wir nicht ‚garaus’, nicht am Ende und ohne Atem. Noch gilt „Hurra, wir leben noch“, wie ein Schlager der 70er-Jahren besingt. Noch ist dieses Volk nicht am Ende, auch wenn das Land in Schutt und Asche liegt.

 

(Insofern ist die tatsächliche Parallele zum Babylonischen Exil auch viel eher das Deutschland von 1945, als hier tatsächlich alles in Schutt und Asche lag, und nicht sein jetziger Zustand: Wir haben einen unglaublichen Reichtum im Land, der nur gerecht zu verteilen wäre … Wohl aber haben wir es heute mit dieser übersteigerten, lähmende Angst zu tun…)

 

 

  1. b) Der Beter bekennt klar und deutlich, wer und was seine Angst überwindet: Er sucht den Ausweg aus seiner Not: die Güte, die Barmherzigkeit, die Treue Gottes. Es ist nicht eine politische Elite oder ihre Konzepte, die helfen, sondern es ist eine Beziehung: die gütige, barmherzige und treue Beziehung, die Gott zu uns Menschen geknüpft hat. Nicht, dass Menschen keine Macht hätten, die Welt zu gestalten – das sagt Jeremia nicht. Aber: Der letzte Souverän, der letzte, der in tiefster Not und Angst bleibt, ist Gott!

 

Gott kann aus „allem, auch dem Bösesten, Gutes entstehen lassen“ (Bonhoeffer), vertraut der Beter. Damit ist Gott alles andere als hilflos, alles andere als abwesend: Er lässt nicht sein Volk alleine, dass ihm seine Existenz verdankt, als er es bei der Hand nahm und aus der Unterdrückung und der Sklaverei in Ägypten geführt hatte. Das er bewahrt hat in der Wüstenwanderung, 40 Jahre lang, und dann doch – wie versprochen – ins Gelobte Land geführt hatte. Dafür hat Gott seine eigene Existenz viel zu sehr an dieses Volk Israel gebunden, als dass er von ihm loslassen könnte, ohne selber Schaden zu nehmen!

 

Gott hat die Angewohnheit, zu enttäuschen und zu betrüben, wie es heißt (v. 32). Diese Erfahrung machen wir täglich, wenn Menschen ihr Leid klagen und dies nicht mit einem barmherzigen und gütigen Gott zusammenbekommen.

 

Aber, das Entscheidende: Genauso täglich – und letztlich überdauernd! – ist die Güte Gottes: „Gottes Güte, Gottes Treu, sind an jedem Morgen neu“ (EG 545)

Jeden Tag habe ich die Chance, bei ihm meine Sorgen abzuladen. Jeden Tag habe ich die Chance, Gottes mutmachendes und befreiendes Zusage zu hören und mit anderen zu teilen – gegen unsere Angst.

 

Jeden Tag: Güte, Barmherzigkeit, Treue. Diese alten Worte, die das Gegenteil sind von Hartherzigkeit, Leistungsdruck, Unzuverlässigkeit – und daher sprengt der gütig, barmherzige und treue Gott die Kreisläufe unseres Alltags, die uns Angst machen.

 

Täglich können wir von dieser Güte nehmen und weitergeben. Das ist schlicht und einfach gesagt „Glaube“: von Gottes Güte und Barmherzigkeit nehmen und weitergeben. Darauf zu „harren“ (v. 25) und geduldig darauf zu warten, dass er uns hilft.

 

 

  1. c) Die Erfahrung des Beters: Schließlich überwindet Gott die Angst vor der Zukunft, weil er selber die Zukunft ist: Israel ist zurückgekehrt aus dem Exil; Gott hat es nicht beim Unrecht, bei der Angst, bei der Unterdrückung belassen. Seine Treue hat sich erwiesen – und zahlreiche Beispiele kennen wir selber, wo Gott uns persönlich dann doch die Treue gehalten hat, obwohl er uns vorher betrübt hat: Der „Herr verstößt nicht ewiglich“ (v. 26)!

 

Deshalb kommen wir sonntags her zusammen – gerade auch an einem 11. September: Um uns zu vergewissern und neu zu hören, dass wir uns jeden Morgen neu auf diese Güte verlassen können, trotz und inmitten allem Leid:

 

„Ich glaube,

dass Gott uns in jeder Notlage

soviel Widerstandskraft geben will,

wie wir brauchen“,

 

schreibt Dietrich Bonhoeffer im April 1944 in der Haft.

 

„Aber er gibt sie nicht im voraus,

damit wir uns nicht auf uns selbst,

sondern allein auf ihn verlassen.

In solchem Glauben müsste alle Angst

Vor der Zukunft überwunden sein.“

 

 

IV.

Liebe Gemeinde,

es gibt sicher berechtigte Zukunftssorgen, die wir nicht einfach vom Tisch fegen können. Und es liegt an uns – sofern wir wählen gehen dürfen -, am kommenden Sonntag wählen zu gehen und bei unserer Entscheidung sehr genau zu prüfen, wer nicht nur eine angstfreie Zukunft verspricht, sondern auch so handeln will, dass möglichst alle Menschen in diesem Land ohne größere Existenzängste leben können.

 

Aber: die übersteigerte Angst, die uns andere machen, muss und soll uns nicht bestimmen: „German Angst“ muss aufhören.

 

Ich denke an ein klitzekleines Beispiel: an die Frauen des Beguinenhofes. 13 alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, unterschiedlichen Alters, haben einen mutigen Schritt gemacht und sind zusammengezogen in ein gemeinsames Haus. Dieses Projekt überwindet Lebensangst:

  • die Angst, einsam alt zu werden: Sie sind füreinander da.
  • Die Angst m die Kinder, wenn man allein erzieht und berufstätig sein will und muss. Die Sorge wird buchstäblich verteilt!

 

 

Als die Jünger auf dem tobenden See von ihrer Angst überwältigt werden [Mt 8,23-27: Evangeliumslesung], fährt Jesus sie an: „Ihr Kleingläubigen, was seid Ihr so furchtsam?“

 

Sie haben ganz vergessen, dass Jesus bei ihnen ist und Gott ja doch gütig ist und aus der Not rettet. – Jesus bedrohte den Sturm.

 

Dieser Sturm ist das Sinnbild für die Angst der Jünger, für unsere Angst.

 

Und als sich die Wogen glätten, heißt das: Die Angst bestimmt nicht mehr ihr Wirken: Sie fassen neuen Mut, sie lassen sich von Jesus gar aussenden für den Dienst.

 

 

Und wie ist es mit unserer Angst in den Stürmen dieser Zeit?