Ein bisschen Schwund ist immer? (3. So. n. Tr. 2005 zu Lk 15,4ff.)

Als in der Wüste der Abend gekommen war, holte der Hirte seine Herde zusammen. Er blickte über seine Herde: Eins, zwei, drei, vier. „Da fehlt ja eins.“ – Ein bisschen Schwund ist immer.“

Predigt – 3. So. n. Trinitatis (Kirche Villigst)

Predigtthema/-text: Das wiedergefundene Schaf, Lk 15,1-7

Am nächsten Tag graste die Herde in der Wüste. Als der Abend gekommen war, holte der Hirte seine Herde zusammen. Er blickte über seine Herde: Eins, zwei, drei, vier …

 

„Da fehlt ja wieder eins.“ [Zögern. Ein wenig Ärger:] „Ein bisschen Schwund ist immer.“

 

So ging es auch die nächsten Tage.

 

Am fünften Abend, als die Hirte erneut ein Schaf verloren hatte, wurde er ärgerlich: „Dann muss ich wohl einen Zaun um meine Herde bauen!“

 

 

[II. Der Hirte, von dem Jesus erzählt]

 

Gott sei Dank: Der Hirte, von dem Jesus erzählt, ist grundlegend anders. Ich lese Verse aus Lk 15:

 

15:4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?

15:5 Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude.

15:6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.

 

Dieser Hirte geht den Seinen nach. Er will alle Hundert! Es geht ihm um jeden.

 

Er lässt lieber die ganze Herde in Wüste zurück, begibt alle anderen damit sogar in Lebensgefahr – nur weil er dem einen verloren gegangenen Schaf hinterherläufen will.

 

Und: Dieser Hirte baut eben keinen Zaun um seine Herde, sondern lässt jedem einzelnen Schaf seine Freiheit – ja sogar die Freiheit, sich von der Herde zu entfernen, wegzulaufen.

 

Wer handelt so wie dieser Hirte? – Wer ist so unvernünftig, die ganze Herde unbeschützt in der Wüste stehen zu lassen und dem einen Schaf hinterherzulaufen? – Wem geht es um wirklich jeden? Und bei wem zählt nicht das Motto „Ein bisschen Schwund ist immer“?

 

 

Bei Gott? – Bei Gott!

 

Viele Geschichte der Bibel zeugen von der Treue Gottes, und viele Menschen erfahren es in schwierigen Stunden, dass Gott wie ein treuer Hirte nicht von unserer Seite weicht. Das ist die Botschaft seit vielen Jahrhunderten.

 

Gott geht es um jeden: Deshalb holt Jesus die „Outsider“ wieder zurück in die Mitte der damaligen Gesellschaft: die Gelähmten, die er heilt, die Blinden, die er sehend macht. Den Zachäus, den Zöllner, den er vom Baum herunterholt und mit ihm isst. Als der verlorene Sohn nach Hause kommt, lässt der Vater ein Festmahl herrichten: So groß ist die Freude, dass der Verlorene wieder da ist. Gott geht es um jeden – und gerade in den schweren Stunden: Als Jesus auf Golgatha am Kreuz hängt, gibt Gott ihn nicht auf, sondern erweckt ihn am dritten Tag und belässt diese Geschichte nicht im Unrecht und in der Bosheit des Menschen enden.

 

So wie dieser Hirte handelt fraglos Gott.

 

 

 

[III. Der Mensch ist Hirte]

 

Allzu schnell überlesen wir, dass Jesus hier in einem Gleichnis redet und vordergründig nicht von Gott, sondern von uns. „Welcher Mensch ist unter Euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die 99 in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?“

 

Welcher Mensch!

 

Und plötzlich zeigt diese Geschichte uns nicht nur, wie Gott an uns Menschen handelt. Sondern wir, jede und jeder einzelnen von uns und wir als Gemeinde, sind angesprochen:

 

Wenn wieder einer aus der großen Gemeinschaft der Arbeitnehmer herausfällt und arbeitslos wird: Sind wir bereit, ihn als Mensch nicht fallen zu lassen? – In den seltensten Fällen haben wir als Einzelpersonen einen Arbeitsplatz für ihn, aber geraten Arbeitslose bei uns nicht allzu schnell an den Rand und fühlen sich ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben?

 

Oder ein anderes Beispiel: Wenn eine ehrenamtliche Mitarbeiterin sich frustriert abwendet von der Gemeinde oder Menschen aus der Kirche austreten: Kommen wir gut ohne sie aus? Gilt, „ein bisschen Schwund ist immer“ oder geht es uns um jeden Einzelnen, auch und gerade um die, die sich abwenden? – Sicher gibt es Gemeindeglieder, die wir „distanziert“ nennen, weil sie heute morgen hier nicht sitzen und selten zu Gemeindekreisen kommen. Sie selber würden sich nie als „weggelaufene Schafe“ bezeichnen, weil sie der Kirche verbunden sind, auch wenn sie selten kommen. Hier gilt eben: Lasst uns keine Zäune um unsere Herde oder Kirchtürme ziehen, die die Schafe in ihrer Freiheit einengen. – Dennoch bleibt die Frage: Sind wir gute Hirten und haben wir alle im Blick, in welcher Entfernung zur Herde sie sich auch bewegen? Merken wir, wenn jemand verloren geht, wenn jemand in Gefahr berät? –

 

Bei jeder Ordination, besonders bei meiner eigenen in dieser Kirche im letzten Dezember – läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn man als junger Pastor verspricht: Gib keinen verloren.“

 

Es ist der kürzeste Satz im „Ordinationsvorhalt“, aber auch der Satz, der mich am meisten erschreckt und fasziniert: „Gib keinen verloren.“ Entferne dich nicht mit deinen Predigten und deiner Theologie von den Menschen mit ihren Fragen und Hoffnungen, suche sie auf, tritt für sie ein, lass ihnen ihre eigenen Wege, aber behalte sie liebend und aufmerksam im Auge. „Gib keinen verloren.“ – Durch die Taufe sind alle Christen damit beauftragt, die Menschen, die uns anvertraut sind, nicht aus dem Blick zu verlieren.

 

 

Auch als Jesus dieses Gleichnis erzählt, geht es um simples menschlichen Verhalten, keinen verloren zu geben. Ich lese den Rahmen zum Gleichnis vom Verlorenen Schaf:

 

15:1 Es nahten sich ihm aber allerlei Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 15:2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und ißt mit ihnen.

 

Jesus, von dem es bei Johannes heißt, dass er der gute Hirte ist, hat sich so verhalten, dass keiner abseits steht: Als die Schriftgelehrten mit ihren Regeln und Bräuchen kommen und ihn zurechtweisen, dass er mit den Sündern und Ausgestoßenen zu Tisch sitzt, da wehrt sich Jesus:

 

Würde nicht jeder gute Hirte seine Herde verlassen für ein verlorenes Schaf? – ist es nicht selbstverständlich, dass es um jeden geht?

 

Wenn Jesus Brot und Wein geteilt hat mit den Menschen seiner Zeit, da war jeder willkommen in seiner Runde: die Zöllner, die Huren, die Kranken, die Besessenen. Wir tun gut daran, dass bei uns beim Abendmahl alle willkommen sind, die auf die Gegenwart Jesu trauen! Es ist ein Zeichen dafür, dass wir uns unabhängig davon, wie viel wir glauben und wie sehr wie moralisch sauber sind, bei Jesus zu Tische setzen können!

 

[IV. Das wiedergefundene Schaf]

 

Und an dieser Stelle stoße ich wieder auf Gott als Hirte. Denn so sehr wir selber versuchen, gute Hirten zu sein, Menschen nachzugehen und sie im Blick zu haben – wir stoßen an unsere Grenzen.

 

So gerne wir in die Rolle des Hirten schlüpfen – oft finde ich mich wieder in dem Schaf. Es fällt viel schwerer, sich in diese Rolle zu versetzen: Orientierungslos. Allein. Verstrickt. Verrannt. Gottverlassen. Gottbedürftig.

 

Jesus weiß das – und deshalb konfrontiert er die Schriftgelehrten auch nicht nur mit dem Anspruch, andere Menschen nicht auszuschließen.

 

Sondern: Am Schluss des Gleichnisses erinnert Jesus an Gott als treuen Hirten, der sich seiner Schafe annimmt. Und seine Schafe sind eben nicht nur die, die ihm nahe sind. Gott blickt vielmehr auf die Menschen, ihn aus dem Blick verloren haben und mit Gott und der Welt nicht im Reinen sind. Jesus nennt sie „Sünder“, denen Großes verheißen ist:

 

15:7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

 

Stellen wir uns das als großes Fest vor, so wie das Fest, als der Verlorene Sohn nach Hause kommt.

 

Wie ein fest nach langer Trauer

Ein offnes Tor in einer Mauer, für die Sonne aufgemacht

Wie ein Brief nach langem Schweigen,

Wie ein unverhoffter Gruß

 

Im afrikanischen Gottesdienst ist Sonntag für Sonntag die wichtigste Bewegung: Vom Kyrie, das Klagen, Not und Scheitern vor Gott bringt, zum lauten Halleluja auf die Gnadenzusage Gottes.

 

 

[V. Ein bisschen Schwund ist immer?]

 

Ein bisschen Schwund ist immer? – Kein echter Hirte wird wahrscheinlich so denken, sondern vielmehr seinem einzelnen verlorenen Schaf nachgehen und es nicht aus den Augen verlieren. –

 

Erst recht gibt Gott keinen verloren. Die Geschichte vom Verlorenen Schaf ist letztlich eine Geschichte vom wieder gefundenen Schaf. Da liegt der Akzent – er wer’s selbst erlebt hat, wieder gefunden worden zu sein, als er mal verloren war, der wird selber ein tätiger Hirte werden – und auch ein dankbares Schaf, dem ein großes Freudenfest ausgerichtet ist.