Von guten Mächten – Eröffnung Dietrich-Bonhoeffer-Zentrum (22.1.2016)

“Ich bin so froh, dass ich dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unseren Häusern sein.

Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit euch gespürt.

Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.

Du, die Eltern, Ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, Ihr seid mir gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor. Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat.“ (Brautbriefe, 208.)

 

Das, liebe Festgemeinde, schreibt der Namensgeber unseres neuen Zentrums, der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, an seine Verlobte Maria von Wedemeyer: kurz vor Weihnachten 1944 aus dem Gefängnis in Berlin-Tegel, in dem er als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus festgehalten wird.

 

Es ist ein Brief voller Beziehung und Liebe.

 

Mit Maria ist er zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre verlobt, aber die beiden haben sich kaum in Freiheit gesehen. Sein Schwager sitzt nach dem Attentat des 20. Juli im gleichen Gefängnis ein. Die Familie muss sich im verwüsteten Berlin durchschlagen.

 

Jede Zeile dieses Briefes – sie ist ein Akt der Begegnung mit anderen Menschen, eine Vergewisserung von Liebe an einem Ort, der mit Einsamkeit und Hass zerstören will.

Bonhoeffer schreibt, er hat sich noch keinen Moment einsam gefühlt. Als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet …

 

„Der Mensch lebt notwendig von der Begegnung mit andere Menschen“ – das ist der erste Halbsatz aus Bonhoeffers Hauptwerk, der „Ethik“,  der die Einladung zur Eröffnung unseres Autismuszentrums ziert.

 

Wie wahr muss ihm dieser Satz im Gefängnis geworden sein – und wie dramatisch und buchstäblich mörderisch Bonhoeffers Leben zu Ende ging, können Sie in der kurzen Lebensdarstellung im Gottesdienstprogramm nachlesen.

 

Suche ich nach der diakonischen Haltung Bonhoeffers – und wir haben dieses Zentrum nicht einfach nach dem gleichnamigen Weg benannt, sondern allzu gerne in Erinnerung an diesen wichtigen Glaubensbruder! – , auch dann stoße ich zu allererst auf die Erfahrungen, die Bonhoeffer selbst gemacht hat:

 

Sogar in der absoluten Isolation des Gefängnisses fühlt er die Liebe und die Beziehung zu seinen Lieben. Er hat vor Augen ein komplettes Bild, wie ein zusammengesetztes Puzzle, was ihn im Leben hält: Familie, Freunde, die Verlobte, gute Gedanken, Bücher, Bibelworte.

 

Der Mensch lebt notwendig in einer Begegnung mit anderen Menschen.

 

In ganz anderer Zeit, an einem ganz anderen Ort und unter ganz anderen Vorzeichen machen diese Erfahrung nun schon seit November Mitarbeitende und Bewohner und Beschäftigte in unserem neuen Zentrum.

 

Auch hier ist gerade ein Bild entstanden, wie ein zusammengesetztes Puzzle: Wer ist da eigentlich eingezogen? Welche Vorlieben hat ein Mensch, der nun mein Nachbar ist? Welche Beziehungen knüpfe ich? Wer ist der Andere? Wie kommen wir zurecht? Oder auch: Welche Begegnungen scheue ich in einem Umfeld, wo jeder sicher genauso  viel menschliche Wärme braucht, sie selber aber schwerer zeigen kann?!

 

Der Mensch lebt von Begegnungen mit anderen Menschen.

 

Das ist an sich noch nicht diakonisch, sondern allgemein human. Aber nehmen wir den weihnachtlich anmutenden Brieftext des 1Joh dazu, entsteht dahinter ein Gedanke, der auch maßgeblich für die Theologie Dietrich Bonhoeffers ist:

 

Der Mensch lebt von Begegnungen, weil Gott selber uns begegnet ist in Jesus, dem Christus. Das ist im 1Joh nichts anderes als ein Rückgriff auf Weihnachten: Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat.

 

Dass christliches Leben dann nur in der Begegnung mit Anderen sich verwirklicht, hat damit zu tun, dass wir dieser Gottes-Bewegung nachgehen sollen und können: So wie Gott uns begegnet ist und uns geliebt hat, so können wir einander begegnen – und gerade darin können wir Gottes Liebe sichtbar und fühlbar machen: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“

 

Damit ist von Gott alles gesagt: Er liebte die Welt so sehr, dass er der Welt leibhaftig begegnet ist. Und es ist alles über den Menschen gesagt, wie wir gerade auch schon im Psalm gebetet haben: Der Mensch ist wunderbar gemacht.

 

Der Mensch kommt zu seiner Bestimmung in der Begegnung zum Nächsten. Autonom kann der Mensch nicht bestehen, sondern nur in Beziehung.

 

Man muss es vor dem Hintergrund der damaligen Zeit hören – und es wirkt auch heute provokant:

  • Es geht in der Begegnung nie ums Herrschen, sondern ums Lieben.
  • Es geht um den Menschen an sich und dem so entlastenden Eingeständnis, dass jeder bedürftig ist nach Begegnung und Liebe, Not-wendiger und Not wendender Weise. Kein Mensch ist nur stark oder schwach, Hilfebedürftiger oder Hilfegebender. Bei Bonhoeffer: kein Mensch ist arisch oder nicht-arisch

 

Der Mensch lebt notwendig in der Begegnung mit anderen Menschen / und ihm wird mit dieser Begegnung in einer je verschiedenen Form eine Verantwortung auferlegt.“

 

III.

Für Bonhoeffer erwächst aus Begegnung Verantwortung für andere. ( Das ist der zweite Teil des Satzes.)

 

Christliche Verantwortung entsteht immer in einer Situation, nie prinzipiell. (Das Puzzle ist daher immer offen und unfertig.) Verantwortung entsteht weniger für eine Sache, sondern immer für einen Menschen. Verantwortung schließt ein, dass man auch mal scheitert in der Begegnung mit Menschen. – Bonhoeffers Haltung ist also alles andere als naiv.

 

Und: Verantwortung ist wechselseitig: Auch ich darf auch darauf vertrauen, dass der Andere, der mir begegnet, Verantwortung für mich hat.

 

Wie modern sind die Gedanken Bonhoeffers! Wie ernst nehmen sie jeden Menschen an sich und wie wenig ordnen sie ihm seinen festen vorgegebenen Platz zu.

 

Als er seinen Brief aus der Gefängniszelle schreibt, da ist er sich bewusst, dass er selber Empfangender ist, aber auch Verantwortlicher, für sein eigenen Leben und für das Leben seiner Lieben, auch wenn ihnen nicht mehr persönlich begegnen kann.

 

Wer fühlt sich für mich verantwortlich?

Was geschieht mir?

 

Und damit ist auch der weihnachtliche Gedanke dahinter berührt: Wie erscheint mir die Liebe Gottes, die im Kind in der Krippe greifbar geworden ist? Und wie verstehe ich daraus meine Verantwortung / als eine Antwort auf diese Liebe Gottes?

 

 

 

IV.

Im BDZ wird sich alles wie zu einem Puzzle zusammensetzen. Aber das Bild bleibt offen und unfertig bleibt.

 

Beispiele von ersten Begegnungen haben wir vorgetragen. Dahinter steht – wie im 1Joh beschrieben – das weihnachtliche Verheißung, dass Gott uns in diesen menschlichen Begegnungen selbst begegnet.

 

Für Diakonie ist Weihnachten daher so unendlich wichtig. Daher wird es mit dem Schlusslied am Ende dieses Gottesdienstes auch nochmals richtig weihnachtlich, bevor dann am Sonntag die Weihnachtszeit endet und die Vorpassionszeit beginnt.

 

V.

Dietrich Bonhoeffer, der im Gefängnis von allen Begegnungen abgeschlossen ist, beendet den Weihnachtsbrief 1944 mit Zeilen, die weltberühmt geworden sind, und voller Begegnung und Beziehung stecken:

 

Liebe Maria, werde nicht mutlos! Ich bin froh, dass du bei den Eltern bist. Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen: Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister:

 

Von guten Mächten treu und still umgeben

Behütet undgetröstet wunderbar 

So will ich diese Tage mit euch leben

Und mit euch gehen in ein neues Jahr.

 

Amen.