Was wirklich ist – Rede zum 70. Jahrestages des Überfalls auf Russland

„Was wirklich ist, glauben wir genau zu wissen. Die Hungertoten von Leningrad, die brennenden Dörfer der Ukraine, der langsame und qualvolle Tod sowjetischer Arbeitssklaven in Deutschland – 20 Millionen  Tote – sind wirklich, obwohl die Zahl sich menschlicher Vorstellungskraft entzieht.

Wirklich ist auch die Umkehrung des Grauens, das sich am Ende über Deutschland legte, die Revanche der Vertreibung, die Vernichtung deutscher Städte und ihrer Kultur.

Unter dem Strich bleiben nach 50 Jahren immer noch das Misstrauen, die Vorurteile des Westens gegen den Osten, der heimliche Hass auf beiden Seiten.“

 

Vor 50 Jahren … Das war 1991. Das sagte der rheinische Präses Peter Beier am 22. Juni 1991 in seiner Predigt bei einer orthodoxen Totenmesse in der Dreifaltigkeitskirche in Pskow. Genau 20 Jahre her!

Mich hat damals die Person Peter Beier, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, fasziniert: sein unerschrockenes Bekenntnis für den Frieden. Peter Beier hat mich politisiert, vielleicht auch zum Theologiestudium gebracht. Und er hat mich zum Versöhnungsgedanken gegenüber Russland gebracht. Konkret: nach Pskow, dorthin, wo er 1991 sprach.

 

Pskow – eine Stadt in Russland. Eine Stadt zwischen St. Petersburg und Moskau, einst eine Stadt mit 70.000 Menschen, die – als die Deutschen mit ihr 1943 fertig waren, – noch 164 Überlebende, 16 unzerstörte Häuser hatte.

 

Heute vor 20 Jahren waren erstmals Christen aus Deutschland, aus dem Rheinland dorthin gefahren. Die Synode hatte beschlossen, die Versöhnungsarbeit – begonnen noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs – fortzusetzen und hinzureisen.

 

Sie kamen, um die Hand zur Versöhnung auszustrecken. Unsicher und nicht wissend, ob die gestreckte Hand ergriffen oder ausgeschlagen wird, nach allem, was passiert war.

Es ist eben ein Unterschied: ob man kommt, um sich zu entschuldigen, oder ob einem die Hand zur Vergebung gereicht wird. Vergeben kann nur das Opfer. Die Russen schlugen die entgegengestreckte Hand nicht aus.

 

Ich war das erste Mal 2006 in Pskow. Die Deutschen, die 1991 kamen, hatte die Verlierer des neuen Russland gesehen: behinderte Menschen. Alte Menschen. Sie hatten begonnen, aus dem Versöhnungsgedanken heraus diakonische Einrichtungen aufzubauen: Sie bauten Russlands erste Behindertenwerkstatt. Ein Frühförderzentrum, eine Säuglingsstation. Inzwischen 40 Projekte. 20 Mill. EUR ist bis heute allein von deutscher Seite finanziert worden, 140 Arbeitsplätze geschaffen worden.

Peter Beier hat damals in seiner Predigt sehr realistisch vom Menschen gesprochen, von seinem Hang, von Krieg und Gewalt nicht lassen zu können:

„Wer will von Versöhnung reden, gar von Versöhnung der Völker? Unversöhnt und unversöhnlich stehen wir uns in der Wirklichkeit gegenüber. Aber wer bestimmt eigentlich, was wirklich ist und folglich Wirkung erzeugt?

Wir Christen vernehmen etwas Unbegreifliches, hören ein fremdes Wort. Dieses Wort stemmt sich gegen unsere Definition von Wirklichkeit und befragt unsere Erfahrungen. Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selbst.

Da, am Kreuz auf Goldagatha, da, im Leib eines gequälten getöteten Menschen, da, in einem Vorgang, der die unversöhnliche Wirklichkeit nur zu bestätigen scheint – da ist und war Gott selbst.

Er rechnet nicht ab, sondern vergibt. Er die sieht die Welt als mit ihm versöhnte Welt an.“

 

An unseren Russengräbern in Altena sind wir gemahnt, heute, 70 Jahre nach dem Überfall auf die Sowjetunion, für Versöhnung einzustehen. Und um unsere eigene Unzulänglichkeit zu wissen.

 

Seien wir Christen und keine Christen: Wir sind gemahnt, die Empfindsamkeit für den Frieden uns zu erhalten. Wiedergutmachung, in dem Sinne, wie ich es in Pskow erlebt habe, ist weniger ein moralischer Anspruch, vielmehr Ausdruck dessen, was wir theologisch „Umkehr zu neuem Leben“ nennen: sich immer wieder neu auszurichten am Menschen als Nächsten, zu lernen aus dem, was an Menschlichkeit starb in den Katastrophen von Stalingrad, Treblinka oder einfachen Städten wie Pskow.

 

 

Als ich 2006 in Pskow war, haben wir uns auf eine mehrstündige Busfahrt begeben, raus aus der Stadt, hin zu einem frei gelegten Stück russische Erde, dem Soldatenfriedhof Sebesh. In den 1940er-jahren sind dort junge Männer beider Seiten gestorben und verschart worden.

 

Nun kamen junge Deutsche und junge Russen gemeinsam dorthin, zum Gedenken. Durch die Deutsche Kriegsgräberfürsorge wurden in den letzten Jahren Massengräber freigelegt und ein Friedhof angelegt – ein Ort des gemeinsamen Gedenkens.

 

Der Ort hat mich ähnlich fasziniert wie die diakonischen Einrichtungen in der Stadt Pskow: Denn nur aus dem Gedenken, was war, wächst die Erkenntnis, was heute zu tun ist.

 

Heute drängen sich viele konkrete Fragen auf: Was bedeutet das alte Credo der Friedensbewegung, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, für die heutige Lage und den Krieg in Afghanistan? – Kann man bei einem solchen Kampfeinsatz wirklich eine Trennlinie ziehen zwischen humanitären Zielen, der Verteidigung freiheitlicher Werte oder handfesten wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen? Ist militärischer Einsatz die Voraussetzung für zivile Hilfe – oder doch nicht eher ihr Hindernis?

 

„Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein.“ So eindeutig und klar brachte es der Ökumenischen Rat der Kirchen in Amsterdam 1948 auf den Punkt. In den Zusammenhang dieses christlichen Friedenszeugnisses gehört der Satz Margot Käßmanns: „Nichts ist gut in Afghanistan!“ – Wer ihr Undifferenziertheit vorwirft, muss sich selber fragen lassen, ob seine Haltung nicht viel zu pragmatisch und vom Friedensgedanken uninspiriert ist!

 

Ich blicke auf die Gräber des Zweiten Weltkriegs, ob sie nun in Altena oder Russland liegen, und sehe die Versöhnungstaten der letzten Jahrzehnte, auch wie wir sie hier mit unserer Partnerstadt Pinsk auch in diesen Tagen kultivieren. Und ich wünsche mir mehr prinzipielle Entrüstung über Kriege, Kampfeinsätze und Waffenexporte und mehr Visionen für Versöhnung, Frieden und „Umkehr“.

 

Vielleicht hat es der christliche Glaube leichter. Denn eine grundsätzliche Gesinnung zum Frieden kommt nicht dem oft unversöhnlichen Menschen heraus. Frieden wird uns von außen geschenkt und verändert und befähigt uns erst zum Frieden.

 

„Mag die Menschlichkeit eine Ungeheuerlichkeit auf die andere türmen – Gott lässt sich in seiner Liebe nicht beirren. Er setzt die neue Wirklichkeit. Sie heißt Versöhnung. Eine andere Wirklichkeit zählt nicht.“ (Predigt Peter Beier, Pskow 1991)