“Was du mich tun lässt, das verstehe ich” – Kreissynode 18.6.2016

„Was du mir sagst, das vergesse ich nicht, was du mir zeigst, daran erinnere ich mich, was du mich tun lässt, das verstehe ich.“ Dieser Spruch steht übergroß in der Montagehalle von Schacht VI in Marl, wo kein Bergbau mehr betrieben wird, sondern Menschen mit Behinderung beschäftigt und qualifiziert werden.

Dieser Spruch steht für einen weiteren „Strukturwandel“, in dem sich Diakonie und – ich würde sagen – unsere gesamte Gesellschaft befindet: Denn mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) wird die UN-Behindertenkonvention (UN-BRK) in die Sozialgesetzbücher hineingeschrieben. Behinderung wird nicht mehr von einem Defizit her beschrieben – was ein Mensch nicht kann – , sondern es wird gefragt:

 

Was benötigt ein Mensch, dass er möglichst die gleiche Chance und Befähigung auf gesellschaftliche Teilhabe hat. („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“, Benachteiligungsverbot nach SGB IX §3,3 (2)).

 

Die Behindertenhilfe (und die kreiskirchliche Diakonie als größter Werkstattträger mit rund 1.800 Beschäftigten an 10 Standorten im Kreisgebiet steht) damit vor einer großen Herausforderung: Wie können in Zukunft Leistungen noch stärker personenbezogen erbracht werden? Wie können auch vermehrt in der üblichen Arbeitswelt integrative Arbeitsplätze angeboten werden? Lässt sich ein inklusiver Arbeitsmarkt entwickeln, wo unsere Region von verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit geprägt ist?

 

 

II.

„Was du mir sagst, das vergesse ich nicht,

was du mir zeigst, daran erinnere ich mich,

was du mich tun lässt, das verstehe ich.“

 

Der Slogan aus Schacht VI ist übertragbar auf andere Bereiche und beschreibt die stufenweise Entwicklung eines Hilfehandelns, das letztlich auf Teilhabe zielt.

 

Wir haben uns als Kirche und Diakonie im vergangenen Jahr im besonderen Maße für Flüchtlinge eingesetzt. Als Flüchtlinge kamen, entstand vielerorts eine große Hilfsbereitschaft in den Kirchengemeinden mit Deutschkursen und Alltagshilfen.

 

Kirchenkreis, Diakonisches Werk in Recklinghausen, Diakonisches Werk im KK RE und die Altstadtkirchengemeinde haben sich recht spontan in Recklinghausen zusammengeschlossen, um mit ihren jeweiligen Mitteln und Kräften die Betreuung von 180 Flüchtlingen im Alten Kreiswehrersatzamt zu gewährleisten. An anderen Orten gibt es andere Beispiele!

 

Nun, 2016, sind wir im „Jahr der Integration“, wo es um die weit größere und noch schwierigere Aufgabe geht, die Geflüchteten zu ertüchtigen und zu befähigen, in diesem Land zu leben und zu arbeiten.

 

Wir sind auf dem schweren Weg vom „was du mir sagst, das vergesse ich nicht“ zum „was du mich tun lässt, das verstehe ich“.

 

Das heißt konkret: Die Umweltwerkstätten (Sozialkaufhäuser und Beschäftigungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose) haben die Geflüchteten anfänglich mit Kleidung und Möbeln versorgt, nun kommen die selben Geflüchteten als Arbeitssuchende in unsere Maßnahmen.

 

Oder: Als kreiskirchliches Werk trafen wir neulich Geflüchtete bei der Jobmesse der Bundesagentur für Arbeit: Als großer Arbeitsgeber im Kreis können wir sie womöglich beschäftigen.

 

Oder: Geflüchtete gelangen nun in die Regelangebote unserer Werke, in Beratungsstellen und Einrichtungen, nicht weil sie als Geflüchtete wahrgenommen werden, sondern als hilfesuchende Menschen im Allgemeinen:

 

Sie kommen an in den Kindergärten, auf dem Arbeitsmarkt und damit auch in den Sozialsystemen. Hier gilt, worauf die diakonischen Spitzenverbände von Anfang an hingewiesen haben:

 

Kein anderer Hilfesuchende darf dadurch weniger Hilfe erfahren, weilandere Menschen neu in unser Land gekommen sind.

 

Umgekehrt gilt aber auch klare Kante gegen die zu zeigen, die Sozialleistungen nicht an Notlagen knüpfen, sondern an die Nationalität und zwischen deutscher und nicht-deutscher Bevölkerung unterscheiden.

Es ist die Errungenschaft des „christlichen Abendlandes“, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind!

 

Zum rechtsstaatlichen Denken gehört auch, dass sich Kirchengemeinden über Kirchenasyl Gedanken machen. Hier ist eine Haltung wichtig, ob man bereits ist, die Rechtsansprüche von Geflüchteten nochmals dadurch überprüfen zu lassen, indem man ihnen besonderen Schutz gewährt.

 

 

Mit dem Integrationsgesetz bekennt sich die Politik erstmals eindeutig zu Deutschland als einem Einwanderungsland. Das Gesetz regelt Integration konsequent über Arbeit und Bildung. Bei allen Kritikpunkte im Einzelnen: Das ist der richtige Weg, weil Integration konsequent über den Teilhabegedanken geht.

 

Schwer wiegt hingegen, dass viele Geflüchtete bis heute weder einen Antrag stellen konnten noch registriert sind und damit durch alle Systeme fallen. Das ist Konfliktpotential z.B. im Alten Kreiswehrersatzamt und eine schwierige Situation für die Sozialarbeiter und Ehrenamtliche.

 

Ebenso belastend: die oft fehlende Perspektive von 48 bzw. 18 unbegleitetenden minderjährigen Flüchtlingen, die vom kreiskirchlichen bzw. städtischen Diakonischen Werk betreut werden.

 

Kirchenkreis und Diakonie haben früh für die Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsarbeit eine hauptamtliche Koordination geschaffen: Ehrenamt braucht Hauptamt.

 

Auch dadurch kann ehrenamtliches Engagement in den Kirchengemeinden nachhaltig gestaltetet werden und neue Strukturen aufgebaut werden: In Datteln und Erkenschwick gibt es ein Umzughilfeprojekt. In Marl haben sich Teams für die Übergangswohnheime gebildet. Kirchengemeinden wie Haltern und Waltrop sitzen am Tisch von Ökumenischen Arbeitskreisen Asyl.

 

Es kann nicht alles aufgezählt werden – aber wir merken, dass sich längst nicht nur evangelische Gemeindeglieder engagieren.

Kirchengemeinden haben große Vorteile: Sie sind eingebunden ins Quartier, können die Arbeit ortsnahen organisieren. Die Kirche wächst – an Aufgaben und an ihrer Relevanz!

 

Hinzu kommt dann zusätzliche Hauptamtlichkeit in den Diakonischen Werken: Wir haben neue Sozialarbeiterstellen bekommen am Haus der Kulturen Herten, in der sozialraumorientierten Sozialarbeit in Marl. Hier in RE haben wir sie ausdrücklich bekommen, weil die die christlichen Wohlfahrtsverbände  – so hieß es beim Empfang zu „100 Jahre Caritas“ – „im Verdacht stehen, gleich die Ehrenamtlichen aus den Gemeinden und ihre weiteren hauptamtlichen Strukturen mitzubringen“.

 

Tatsächlich: Diese Form der Subsidiarität gewinnt neue Relevanz. Wo Kommunen im letzten Jahr so gedacht haben, haben wir sie nicht enttäuscht.

 

Diakonie und Kirchengemeinde – beim Thema „Flüchtlinge“ wird für mich auf einmal wird vieles greifbarer und sinnbildlicher, als ich als Diakoniepfarrer  theoretisch entwickeln und mit den Kirchengemeinden verabreden könnte! Gut so!

III.

Erlauben Sie mir schließlich noch ein paar Stichworte zu meiner Arbeit als Vorstand und Geschäftsführer des Diakonischen Werkes im Kirchenkreis RE, die satzungsmäßig mit der Diakoniepfarrstelle verknüpft ist:

 

1.

Wir haben das Diakonische Werk Emscher-Lippe gründen können, – nicht zuletzt durch die Zustimmung der Kirchengemeinden als Mitglieder des DW: DW EL ist ein Dach über die Werke in RE und GBD und fungiert offiziell als regionales Werk des Gestaltungsraums der beiden Kirchenkreise.

Die bisherigen Vorstände aus RE und GBD sind der gemeinsam Vorstand.

 

Die Struktur der bisherigen Werke mit ihren Gesellschaften bleiben bestehen (auch das Diakonische Werk in RE bleibt, wie es ist).

 

Wir führen also keine Fusion durch.

 

Wir bleiben vor Ort erkennbar.

 

Durch die einheitliche Struktur (steuerliche Organschaft) können wir aber unsere Zusammenarbeit verbindlicher gestalten. Wir dürfen etwas zusammentun, wir müssen es aber nicht.

 

Mit dem DW EL wird die diakonische Struktur stärker deckungsgleich mit dem Kreis RE (weil die Städte Gladbeck und Dorsten mitvertreten sind).

 

Zum Anfang koordinieren wir gemeinsam die Fortbildung unserer dann – zusammenaddiert – rund 3.500 Mitarbeitenden.

 

Wir hoffen, dass wir damit auch im gemeinsamen fachlichen Austausch die Umbrüche und Zukunftsthemen angehen und keine Entwicklungen verpassen:

 

  • Wie wollen zukünftig Menschen im Alter wohnen? Wir erleben derzeit große Veränderungen in der Altenheimlandschaft. Wir haben darauf reagiert, indem wir mit einer Wohngemeinschaft für dementiell Erkrankte bauen am Standort Haus Simeon in RE, wo wir die vollstationären Plätze wegen der Gesetzesänderungen aufgeben müssen.
  • Wie verknüpfen wir in der Jugendhilfe so wichtige Lernorte wie Kindergarten und Schule mit Frühförderung, ambulanten und stationären Angeboten, um im besten Sinne „Bildung“ anzubieten?
  • Welche Beratungsstellen brauchen wir an welchem Ort und mit welcher Verknüpfung zur Kirchengemeinde?
  • Wie wollen Menschen mit Behinderung wohnen?
  • Wie schließlich schaffen wir es, dass wir für helfende Berufe möglichst früh werben? Das FSJ-Programm des Kirchenkreises ist fast einmalig in der Landeskirche! Wie können wir dem Fachkräftemangel entgegenwirken und selber Talente so fördern, dass Menschen gerne bei der Diakonie arbeiten?

 

IV.

„Was du mir sagst, das vergesse ich nicht, / was du mir zeigst, daran erinnere ich mich, / was du mich tun lässt, das verstehe ich.“

 

Der Spruch in der Werkstatt Schacht VI hat für mich auch eine geistliche Aussagekraft für diakonisches Leben und Arbeiten, ja eigentlich für das christliche Menschenbild an sich:

 

Nie gehört ein Mensch „gelabelt“ und in eine Schublade gesteckt. Nie weiß ich, was er braucht, bevor ich ihn gefragt habe, wer er ist und was er kann.

 

Gelingt es, immer wieder neu auf den Nächsten zu blicken, wächst wirklich gegenseitiges Verstehen – sei es mit Blick auf einen behinderten oder alten Menschen, auf einen Jugendlichen oder Flüchtling.

Dieses Verstehenwollen hat eine zutiefst diakonische wie pfingstliche Dimension – für die es sich lohnt zu werben und immer wieder neu einzustehen.