Bonhoeffer heute – Predigt zum 80. Todestag

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer und einige andere Häftlinge sind im April 1945 auf dem Transport zum KZ Flössenbürg unterwegs.

Ein Mithäftling, der rheinische Katholik Hermann Pünder, nötigt Bonhoeffer dazu, auf der Reise in einem verlassenen bayrischen Schulhaus einen Gottesdienst zu feiern. Als Protestant zögert Bonhoeffer zunächst. Er will das das Gefühl des Katholiken und die Moral eines bekennenden Atheisten, der sich auch unter den Männern befindet, nicht verletzen.

Predigt – Gastkirche Recklinghausen, Judika/6. April 2025

80. Todestag Dietrich Bonhoeffer

Erst als Plünder darauf besteht, gibt Bonhoeffer nach. Er liest das Bibelwort aus den Losungen und den Episteltext des Sonntags, dem ersten Sonntag nach Ostern aus 1 Petrus 1:

3 Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, 4 zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das aufbewahrt wird im Himmel für euch, 5 die ihr aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werdet zur Seligkeit, die bereitet ist, dass sie offenbar werde zu der letzten Zeit. 6 Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen., 7 auf dass euer Glaube bewährt und viel kostbarer befunden werde als vergängliches Gold, das durchs Feuer geläutert wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus. 

2.

Nachdem Bonhoeffer den beiden Mitgefangenen diesen österlichen Vers ausgelegt hat, wird er ins KZ Flossenbürg gebracht. Er verabschiedete sich mit einem Gruß an den englischen Bischof George Bell, mit einem Satz:

 „Dies ist für mich das Ende, aber auch der Anfang.“

Das klingt voller Vertrauen ins Wiedergeboren sein und voller Hoffnung, selbst im Angesicht des Endes.

Das passt auch zum Bild, das der Kinofilm „Bonhoeffer“ März 2025 von ihm malt:  Er geht aufrecht und ruhig zur Hinrichtung. Er ist sich seiner Sache ganz bewusst und sicher.

Bonhoeffer – ein Held, ein evangelischer Heiliger oder gar Märtyrer, als der er heute überm Westportal der Westminister Abay in London steht, direkt neben dem katholischen Befreiungstheologen Oscar Romero?!

Aber: Das Bild vom Helden passt nicht zu seinen Texten aus der Haft, die existentiellen Zweifeln spüren lassen – und die daher in die Passionszeit passen:

Gott, zu dir rufe ich.

Sammle meine Gedanken, hilf mir zu beten;

ich kann es nicht allein.

In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht;

ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht;

ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe;

ich bin unruhig, aber bei dir ist Friede;

in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld;

ich verstehe deine Wege nicht,

aber du weißt den Weg für mich.

Dir sei Ehre in Ewigkeit.

 

Oder das Gedicht „Wer bin ich“ (in Auszügen):

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich träte aus meiner Zelle

gelassen und heiter und fest

wie ein Gutsherr aus seinem Schloß

 

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

ich spräche mit meinen Bewachern

frei und freundlich und klar,

als hätte ich zu gebieten.

 

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

ich trüge die Tage des Unglücks

gleichmütig, lächelnd und stolz,

wie einer, der Siegen gewohnt ist

 

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

 

Oder in der Haft fallen ihm diese Worte ein (EG 652,2):

Noch will das alte unsre Herzen quälen,

noch drückt uns böser Tage schwere Last / auch Herr, gib unseren aufgescheuchten Seelen / das Heil, für das du uns bereitet hast.

 

3.

Wer war also dieser Dietrich Bonhoeffer?

Welche Erfahrungen mit Gott hat er gemacht?

Und was kann dieser Glaube heute für uns bedeuten?

Ich verstehe Bonhoeffer in Paradoxien:

 

3.1

Er war widerständig, aber aus Glauben.

Er wuchs er in einer großbürgerlichen Familie in Breslau und Berlin, studierte Theologie und promovierte über die Frage, was die Kirche ist. Schon mit 24 Jahren habilitiert er sich.

Er kritisierte als einer der ersten in der Evangelischen Kirche den totalitären Anspruch der Nazis. Entschieden wandte er sich gegen die Entfernung von Juden aus dem Beamtenapparat, und damit auch von getauften Juden aus der Kirche.

Wenn ein Raser durch die Straßen fährt, schrieb Bonhoeffer schon 1933, dann müsse man nicht nur die Wunden der Verletzten verbinden, sondern dem Rad zwischen die Speichen greifen. Er beschrieb – neu für lutherisches Denken – ein Widerstandsrecht gegenüber dem Staat.

Heute berufen sich auch politische Fundamentalisten auf Bonhoeffer: In den USA legitimieren sie damit den gewaltsamen Angriff auf den Kongress und den Widerstand gegen den angeblich zu liberalen Staat. In Deutschland wurde mit Bonhoeffer-Worte zu Corona-Protesten aufgerufen.

Mal abgesehen davon dass, wir heute in einem demokratischen Rechtsstaat leben und nicht in einer Diktatur: Bonhoeffer gründet seine Widerständigkeit aus dem Glauben und aus der Aufgabe der Kirche heraus, den „Mund für die Stummen“ Sprüche 31.8) aufzutun. Zitat: „Wer weiß denn das heute noch in der Kirche, dass diese die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist?“

Auch heute gehört es zur Aufgabe der Kirchen, für die zu sprechen, die selber nicht laut genug reden können, und für sie zu beten. Und dann mit ihnen zusammen zu versuchen, Notlagen in neue Lebensmöglichkeiten zu wandeln.

So versuchen Sie es in der Gastkirche: Hier fallen Reden und Handeln ineinander, und Sie scheuen nicht eine gewisse Widerständigkeit!

 

3.2

Zweite Paradoxie: Bonhoeffer war kirchlich, aber weit und frei

Bonhoeffer war weltweit und ökumenisch orientiert, als Vikar in Barcelona, Pfarrer in London, Dozent in New York.

Er erkannte früh die Kriegsgefahr, die von Hitler ausging. Auf einer ökumenischen Konferenz im dänischen Fanö forderte er, nun müssten sich die Kirchen weltweit zusammenschließen für den Frieden.

„Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden, dass die Welt es hört […]Der einzelne Christ kann das nicht – […] Die einzelne Kirche kann [es nicht]. […] Nur das eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss […].“

Freilich entschied sich der gleiche Bonhoeffer später, sich am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 zu beteiligen.

Was würde Bonhoeffer uns heute im Ukraine-Krieg raten, wo wir augenscheinlich nur in den sich ausschließenden Narrativen verhaftet sind: Aufrüstung oder Verhandeln?

Bonhoeffer würde uns nicht aus der persönlichen Verantwortung lassen! –  So sehr er pazifistisch geprägt war, so sehr sah er die absolute Grenzsituation, seinem Volk zu in letzter Konsequenz auch mit Gewalt helfen zu müssen. Ihm war aber klar, dass beides – Tun und Nichttun –  Schuld erzeugt.

Dieses Eingeständnis, egal wie man sich entscheidet, Schuld auf sich zu laden, fehlt mir in der heutigen gesellschaftlichen Debatte um Krieg und Frieden!

Wäre Bonhoeffer beim Hitler-Attentat direkt dabei gewesen, wäre er übrigens vorher aus der Kirche ausgetreten und hätte als Bürger diese Schuld auf sich genommen.

 

3.3

Dritte und für mich wichtigste Paradoxie: Bonhoeffer wollte nicht moralisch sein, sondern „christusförmig“

1936 entziehen die Nazis ihm seine Lehrerlaubnis. Er kehrt 1939 freiwillig aus New York nach Deutschland zurück und geht in den militärischen Widerstand.

1943 wird er verhaftet. Wesentliche Schriften wie seine „Ethik“, Gedichte („Wer bin ich?“) oder das berühmte Lied „Von guten Mächten“ entstehen in der Haftzeit.

Hier bin ich am Kern, ob Bonhoeffer eher Zweifler oder Glaubensvorbild war und für uns heute sein kann.

In der Gefängniszelle muss ihn der Glaube an den mitleidenden Christus am Leben gehalten haben. Gerade diese radikale Diesseitigkeit.

Die „guten Mächte“, von denen er sich geborgen fühlt, sind für ihn keine himmlischen Engel, sondern als durch und durch diesseitige Zeichen: Briefe der Eltern und der Verlobten, gute Bücher, Zigaretten.

Dadurch gibt Gott ihm so viel Widerstandskraft, wie er braucht, täglich neu (Glaubensbekenntnis).

Am 21. Juli 1944, am Tag nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler, schreibt Bonhoeffer:

„Ich erinnere mich eines Gesprächs, das ich vor 13 Jahren mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: Ich möchte ein Heiliger werden – und ich halte für möglich, dass er es geworden ist – ; das beeindruckte mich damals sehr.

Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: Ich möchte glauben lernen.

Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte.

Später erfuhr ich und erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen, […] und in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leb[t] – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist Umkehr; und so wird man Mensch, ein Christ.“

Dann wacht man mit Christus in Getsemane.

So wie für Bonhoeffer die Kirche immer eine Kirche für andere ist, so erlebt er Christus als Christus für andere. Und das heißt auch: auch für sich selbst.

Dieser Christus war selbst widerständig in seinem Leben. Er gab sein Leben, um damit in letzter Konsequenz das Unrecht dieser Welt sichtbar machte – an einem nicht diesseitiger zu denkenden Ort wie dem Kreuz. Und: Dieser Christus hat mit seiner Auferstehung die Leidenden ins Recht gesetzt hat:

Traurig sind wir in mancherlei Anfechtungen, aber wiedergeboren nach Gottes großer Barmherzigkeit zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten.

Das ist der Kern, dass Bonhoeffer – sitzend im Kerker – vertrauen kann, dass Gott aus allem, selbst dem Bösesten, Gutes entstanden lassen kann und will.

Ähnlich soll ein Mitgefangener über Bonhoeffer gesagt haben: „Er hatte eine so feste Hoffnung, dass Gott durch Christus alles wiederbringen wird, alles vollbringen wird, dass nichts verloren gehen wird.“

4.

Insofern bietet Bonhoeffer selbst die beste Verteidigung gegen den Missbrauch seines Lebens und seines Werkes. Er fragt nicht (moralisch): Wie weit wirst du gehen? Sondern sein Leben ist bestimmt von der Frage: Wer ist Christus für uns heute? (Als Auftakt seiner – ebenfalls in der Haft begonnenen – „“Ethik“ weist er die Frage nach dem Guten in ihre Schranken. Er fragt kategorisch anders: nach dem Willen Gottes.)

Christus ist im Leben – und besonders im Unrecht und im Leiden! – des Nächsten und der Nächsten zu finden.

Uns wächst daraus stets neue Verantwortung zu: Gott wartet auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten. Und: Er antwortet. Amen.

Als Glaubensbekenntnis im Anschluss:

 Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,

Gutes entstehen lassen kann und will.

Dafür braucht er Menschen,

die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage

so viel Widerstandskraft geben will,

wie wir brauchen.

Aber er gibt sie nicht im voraus,

damit wir uns nicht auf uns selbst,

sondern allein auf ihn verlassen.

In solchem Glauben müsste alle Angst

vor der Zukunft überwunden sein.

Ich glaube,

dass Gott kein zeitloses Fatum ist,

sondern dass er auf aufrichtige Gebete

und verantwortliche Taten wartet und antwortet.