Mach den Raum deines Zeltes weit!

„Mache den Raum deines Zeltes weit! Spanne deine Seile lang! Stecke deine Pflöcke fest!“ – Worte, die zum Ankern und Festmachen auffordern. Worte für uns in bewegenden und veränderlichen Zeiten. Worte, die in meine Sehnsucht nach Schutz und Geborgenheit ansprechen.

Andacht zum Tagesaufenthalt in der Erlöserkirche Herten, Februar 2023

Was helfen Zelte, wenn Berge weichen und Hügel fallen?

Es gibt wirkmächtige Gegenbilder: fehlende Zelte in den Erdbebengebiete. Schlecht ausgestatte Flüchtlingscamps weltweit. Zelte sind nicht zwingend romantische Orte.

Die Perspektive des Jesaja ist genau diese: das Volk Israel, entwurzelt im Exil, auf der Flucht. Fern vom alten Leben, mit extrem unvorhersagbarer Zukunft. Mit maximalen Umbrüchen.

Da hinein – wo es nur das Zelt gibt – spricht Jesaja:

„Macht den Raum deines Zeltes weit.

Breitet aus die Decken.

Spart nicht.“

Biblische Lesung aus Jesaja 54 

2 Mache den Raum deines Zeltes weit und breite aus die Decken deiner Wohnstatt; spare nicht! Spann deine Seile lang und stecke deine Pflöcke fest!
3 Denn du wirst dich ausbreiten zur Rechten und zur Linken, und deine Nachkommen werden Völker beerben und verwüstete Städte neu bewohnen.
Denn Gott spricht: 7 Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. 
8 Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser.
9 Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will.
10 Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.

 

Wo es existentiell wird, denkt größer.

Wo es – buchstäblich – kein festen Grund unter den Füßen gibt, um Häuser zu bauen und sich auf Dauer niederzulassen – da breitet eure Decken aus: Macht euch das Provisorium wohnlich.

 

Richte euch ein im Ungefähren. Seid ganz da, wo ihr seid: Setzt die Pflöcke fest, weil sonst auch das Provisorium ins Rutschen kommt.

 

Aber seid auch immer bereit, die Zelte wieder abzubrechen und weiterzuziehen.

 

Das ist die existenzielle Erfahrung des Volkes Israel, das weggeführt wurde an Flüsse Babylons und die Sehnsucht wachhielt, zurückzukehren und die zerstörten Städte wiederaufzubauen. Kaum zu vergleichen mit uns in dieser Leitungskonferenz.

 

II.

Dennoch kommt mir dieses Bild sehr nahe. In der Erlöserkirche in Herten lässt sich in diesen Wochen nachspüren, wie Zelte zum Symbol werden – für vieles.

 

Die Gemeinde nutzt die Kirche im Winter nicht. Sie weiß nicht, ob sich überhaupt noch Menschen dort zum Gottesdienst versammeln werden.

 

Uns platzt der Tagesaufenthalt hinter dem Dienstehaus gegenüber aus allen Nähten.

 

Kolleginnen, Kollegen und Freiwillige haben Bänke rausgetragen und – obwohl auch das benachbarte Gemeindehaus leersteht – bewusst im Gotteshaus Zelte aufgebaut.

Dort, in einer Kirche, wird es nun ein wenig behaglich. Dort warten ein warmes Getränk oder Essen. Menschen sind da für ein Gespräch, Ehren- wie Hauptamtliche.

 

Die Kirchmauern sprechen stumm Würde und Schutz zu. Manch einer der Gäste hat lange keine Kirche von innen gesehen und fühlt sich eingeladen.

 

Der Kirchturm blickt wie eh und je in einen Stadtteil hinein, und viele dort können jetzt wieder sehen: Hier ist die Kirche; und sie ist bei einer ihrer eigentümlichsten Aufgaben. Die Türe stehen offen.

 

Es war die bewusste Suche nach einem guten Ort, um Pflöcke einzuschlagen. Und ich habe gelernt, dass man diese Chance schnell nutzen musste, und dass man das Wagnis eingehen musste, einfach loszulegen statt alles bis ins Detail vorher zu planen. Bevor die Gemeinde den Mut dazu verliert. Und wir von der Diakonie…

 

Wir sparen nicht. Weil die Landeskirche für dieses Jahr zusätzlich Kirchensteuer gibt. Wir wissen nicht, wie es sich entwickelt.

 

Wir können die Zelte wieder abbauen. Oder wir bleiben und breiten uns gar „aus zur Rechten und zur Linken“: Die ersten saßen auch schon vorne in den Bankreihen. Und die Gemeinde ist angetan, dass sich plötzlich wieder Menschen für diesen Ort interessieren …

 

III.

Ein Predigteinstieg hat mich in meinem Leben und Denken besonders geprägt. Das ist exakt 30 Jahre her. Der renovierte Berliner Dom sollte eingeweiht wurde – oder evangelisch gesagt: – wieder in Gebrauch genommen werden. Ein wunderbares prunkvolles Gebäude, die Heimstätte des deutschen Protestantismus und Preußentums an sich, und daher sehr ambivalent.

 

Der damalige rheinische Präses Peter Beier hatte damals die schwierige Aufgabe vor einer Festgemeinde mit Bundeskanzler Kohl und Berlins Regierendem Bürgermeister Diepgen etwas zu diesem Gotteshaus zu sagen.

 

Die ersten drei Sätze seiner Predigt lauteten:

 

„Die Wahrheit braucht keine Dome. Die Evangelische Kirche braucht auch keine Dome. Das liebe Evangelium kriecht in jeder Hütte unter und hält sie warm.“

 

Ich will die Zelte in der Erlöserkirche nicht romantisieren und die Nöte der Menschen dort nicht theologisieren.

 

Aber das mag in dieser Zeit spürbar sein: Dass „das liebe Evangelium in jeder Hütte unterkriegt und sie warm hält“, wenn wir nur die Türen weit genug öffnen.

 

Natürlich ist es gut, wenn Kirche und Diakonie ihre festen schönen Orte haben. Es ist gut, wenn sonntags die Glocken läuten. Und stolz zeigen auch wir, was wir in der Pandemie an Gebäuden geschaffen haben.

 

Darin erschöpfen wir uns aber nicht. In unserem Auftrag steckt mehr: nämlich das unbedingte Vertrauen, dass wir etwas offen und unfertig lassen dürfen. Denn dann – so die Verheißung – gesellt sich Gott an unsere und füllt mit den Menschen, die er uns schickt, diesen freien Platz.

 

Das ist doch der eigentliche Gedanke eines Teilhabeunternehmens: Wie gestalten wir mit Anderen unsere Zelte so, dass sich darunter die Decken ausbreiten? Und wie beziehen wir das Bewährte neu ein, wie eine altes Kirchgebäude?

 

Die Kirche bietet als Institution den Menschen nicht mehr die Heimat wie früher. Aber kann sie nicht ein Gastort werden? Sie lädt Menschen Zeit ein, es wird geratstet und aufgetankt, gegessen und zugehört, bevor die Menschen weiterziehen.

 

Und die Diakonie? Was werden wir zukünftig nicht mehr sein? Was werden nicht mehr brauchen? Aber wohin können wir aufbrechen im Vertrauen, dass das Gott sich an unserer Seite seinen Platz sucht?

 

Dieser Jesaja-Text ist nicht nur Anspruch an unser Tun. Sondern er ist ein Zuspruch in allen Veränderungen, die wir sehen und erst noch erleben werden:

 

Gott wird den Raum des Zeltes weitmachen.

Er breitet uns die Decken in unserer Wohnstatt aus.

Er spart nicht.

Er spannt seine Seile lang, um uns zu berühren.

Er steckt seine Pflöcke fest, damit wir nicht den Halt verlieren.