Diakonische Verantwortung von Gemeinschaften und Unternehmen

“Um geheime oder verborgene Not zu erkennen“ und um „auch etwas Unkonventionelles zu wagen“ müsse die Kirche so etwas wie ein Unternehmen gründen. (Zitat aus der Einbringungsrede des Synodalältesten Dr. Coenen zur Gründung unseres Diakonisches Werkes – damals noch als Synodalverband der Inneren Mission – auf der Kreissynode 1965).

Tischrede Konvikttreffen der Rauhäusler Diakoninnen und Diakonie, 13.5.17 in Oer-Erkenschwick.

Wer in Sachen Diakonie tätig ist, braucht zwei Eigenschaften: Er muss den Auftrag der Diakonie kennen. Und er muss in der Organisationsform beweglich sein.

Das ist bis heute so.

Zunächst um Zweiten, zur Organisation: Wir sind ein wachsendes Werk, das in den 10 Städten des Kreises Recklinghausen, einem der größten der gesamten Republik, in unterschiedlichsten Bereichen tätig ist:

  • vier Altenhilfe – sechs Diakoniestationen
  • 10 Standorte für Menschen mit Behinderung – Wohnheime für Menschen mit Behinderung (auch Autismus als Spezialausrichtung), ambulante Wohnformen und ambulant betreutes Wohnen.
  • Drei Sozialkaufhäuser (Standorte unserer Umweltwerkstatt: entstanden aus dem Wiederverwertungsgedanken der 1980er-Jahre qualifizieren wir Langzeitarbeitslose in einer Region verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit)
  • Jugendhilfe: vom Evangelisches Kinderheim (1905 als älteste diakonische Einrichtung in RE gegründet), heute mit ambulanten und stationären Hilfeformen über flexible Hilfen hin zu einem heilpädagogischen Zentrum.
  • Das Besondere: zahlreiche kleine diakonische Beratungsstellen (Schuldner-, Insolvenz-, Sucht-, Wohnungslosenberatung, …)

(Alles außer Krankenhäuser.)

1.800 Hauptamtliche; 1.900 behinderte Beschäftigte; wir erreichen 4.500 Menschen am Tag (das ist die Durchschnittsgröße einer westfälischen Kirchengemeinde).

Wir sind damit eines der größten regionalen Werke innerhalb der Diakonie RWL. Wir gehören seit 2016 zum Dach „Diakonisches Werk Emscher-Lippe e.V.“, dem regionalen Werk der beiden zum Gestaltungsraum zusammengeschlossenen Kirchenkreis GBD und RE.

II.

Und nun zum Ersten der beiden Eigenschaften: man muss den Auftrag der Diakonie kennen – in einer stärker säkular werdenden Gesellschaft und in einem auch von privaten Wettbewerbern umkämpften Sozialmarkt erst recht.

Dafür haben wir eine gleichberechtigte Doppelspitze in der GF, eine Kauffrau und einen Theologen, früher sogar auch noch einen Sozialarbeiter. Die Überzeugung ist bis heute, dass wir der eigentliche diakonische Auftrag nur durch das Austarieren der von diesen Personen symbolisierten Dimensionen erkannt werden kann: von der Ökonomie, der Theologie und der Fachlichkeit.

Das ist für mich schon eine ersten Thesen für uns heute:

Diakonie braucht immer verschiedene, auf einander bezogene Berufe.

 Es gibt keinen Vorrang der einen gegenüber der anderen Berufsgruppe.

Das diakonische Profil ist nie von der Kirchlichkeit her allein zu erreichen, genauso wenig von der Dimension des Ökonomischen. Genauso wenig geht Diakonie in der Sozialarbeit (oder einer anderen Fachlichkeit) auf.

Insofern schätze ich Diakoninnen und Diakone, die sich weder hinter ihrer Kirchlichkeit, noch hinter ihrer Fachlichkeit allein verstecken können.

Mit ihrer säkularen, allgemeinen Berufsausbildung und ihrer Kirchlichkeit decken sie in ihrer Person schon zwei der drei Dimensionen ab – und oft können sie auch rechnen und beherrschen das Ökonomische ….

III.

Dieses Glück ist aber nicht unsere Realität: Unter unseren 1.800 MA haben wir ganz vier Menschen, die einer Gemeinschaft angehören: ein Diakon, zwei Diakoninnen, ein CVJM-Sekretär.

Wenn uns also daran liegt, dass Fachlichkeit und Kirchlichkeit – was bei Diakoninnen und Diakonen von der Ausbildung her in eins fällt – aufeinander bezogen werden, dann müssen wir uns als Werk in und mit unserer Struktur besonders für unser diakonisches Profil bemühen.

Was fachlich ausgebildete und kirchliche gebundene Diakonie nicht als Person in sich vereinen, muss unser Werk in seiner Organisationsstruktur leisten.

Das tun wir nach Kräften.

Mit Rainer Hinzen möchte ich zwischen diakonischer Kultur und diakonischer Kompetenz unterscheiden: Wir haben eine sichtbare institutionell geformte Kultur von:

  • die seelsorglichen und gottesdienstlichen Angebote in den Einrichtungen (wöchentlich in Altenheim, Weihnachtsgottesdienste in den Werkstätten)
  • Mitgestaltung der Diakoniesonntage in Gemeinden des KK
  • Gestaltung von Übergängen im beruflichen Leben: Begrüßung und Einführung neuer MA , Jubiläen, Abschiede.
  • Gestaltung von besonderen Ereignissen oder Unglücken (Todesfall in den Werkstätten; Sterben im Altenheim).

Zur diakonischen Kompetenz zähe ich alles, was der einzelne Mitarbeitende hat bzw, sich aneignet an Haltungen und in der Reflexion von grundlegenden Fragen:

  • Kann ich vom anderen Menschen her denken?
  • Habe ich Nächsten- und Selbstliebe in Balance?
  • Wie gehe ich mit der Fragilität/Verwundbarkeit und Endlichkeit des Lebens um?

Wir haben in der Altenhilfe einen Ethikrat gegründet, um in ethischen Konfliktfällen den MA Handlungssicherheit und Klienten eine größere Erwartungssicherheit zu verschaffen.

Wir verknüpfen uns mit gemeindlichen Aufbrüchen (Dienstehäuser in Gemeindehäusern; Beteiligung am Mittagstisch für Bedürftige im Gemeindehaus oder am ambulanten Hospizdienst im Altenheim; Quartiersentwicklung)

Die Entwicklung diakonischer Kompetenz ist eine zentrale Anliegen unserer betriebseigen Fortbildung, für die wir ein eigenes Begegnungs- und Tagungszentrum entwickelt haben.

Es können die wesentlichen Fragen gestellt werden (und was das Diakonische ist, kann man nicht naturwissenschaftlich festlegen):

-„Können wir das, was wir täglich tun, auch tun, ohne Diakonie zu sein?“

– „Wir machen so viel Diakonisches, ohne es „diakonisch zu nennen.“

 

Zweite These also: Wenn man wenig Diakoninnen und Diakonie hat, ist das Aufeinanderbeziehen der Dimensionen des Ökonomischen, des Fachlichen und des Theologischen die Aufgabe eines Werkes (also in der Struktur).

IV.

Wir sind keine geistliche, aber irgendwie doch eine Gemeinschaft …

45% unserer Mitarbeiter – das ist dem katholischen Münsterland geschuldet – sind katholisch; 45% sind evangelisch. Wir haben durch die Flüchtlingsarbeit muslimischen MA hinzugewonnen, die sich deutlich zu unserem Leitbild bekennen und das auch artikulieren können.

Wir sind nicht homogen.

Und trotzdem sind wir mehr als eine „Dienstgemeinschaft“ nach §1 des MVG: Wir sind zumindest auf Zeit mehr:

  • immer wieder mal an verschiedenen Orten eine „Gottesdienstgemeinschaft“
  • eine Lerngemeinschaft (Fortbildung)
  • eine Auftragsgemeinschaft; leitende Führungspersonen werden agendarisch verpflichtet und entpflichtet
  • eine Wertegemeinschaft: so konfessionell unterschiedlich wir auch sind, geht es nicht um die formale Kirchenmitgliedschaft allein, sondern ob man das Leitbild befürworten kann (seit Debatte mit muslimischen MA überlegen wir, es in Bewerbungsgesprächen zu verknüpfen mit der Frage, warum sich jemand bei der Diakonie geworben hat).

These: Wir sind nicht die Gemeinschaft der Getauften (oder eine geistliche Gemeinschaft, weil viel pluraler), aber auch wir beauftragen – zumindest Führungskräfte – über die eigentlichen Pflichten des Arbeitsrechts hinaus auf den gemeinsamen diakonischen Auftrag. Die Diversität, die wir haben, ist eher ein Reichtum als eine Bürde.

V.

Schlussbemerkung:

Ich wünsche mir mehr gemeinschaftlich gebundene Menschen. Nicht weil sie ersetzen könnten oder sollten, was ich gerade beschrieben habe – dass nämlich ein Werk in seiner Organisation dafür sorgen muss, dass das Diakonische sichtbar wird.

Aber gemeinschaftliche gebundene Mitarbeiter machen alle unsere strukturellen Versuche plausibler, weil sie mit ihrer Person und ihren Amt sichtbar und behaftbar dafür einstehen.