Die 10 Grenzen (18. So. n. Tr. zu Ex 20,1-17)

Und Gott redete alle diese Worte: 2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. 3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.Predigt – Gnadenkirche Münster, 18. Sonntag nach Trinitatis (29.9.2013) Die Zehn Gebote

4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:

5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, 6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.

7 Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.

8 Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest.

9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.

10 Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.

11 Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.

12 Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.

13 Du sollst nicht töten.

14 Du sollst nicht ehebrechen.

15 Du sollst nicht stehlen.

16 Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

17 Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

 

Liebe Gemeinde,

 

zehn Gebote. In der Frauenhilfe war uns neulich schnell klar, welches Gebot die Frauen dort ein langes Leben lang am meisten geprägt hat: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ – Da hatten die eigenen Eltern ihre Eltern noch gesiezt. Oder in den 1950er Jahren war Gehorsam noch oberstes Erziehungsziel, und Pfarrer, Lehrer, Eltern erinnerten gerne mit einem gewissen Eigeninteresse ans vierte Gebot.

 

Auch das Gebot, den Feiertag zu heiligen, hat sich bei den Frauenhilfsfrauen eingebrannt: Sonntags legte man die Alltagskleidung. Kirchgang, Sonntagsbraten, der einzige frei Tag der Woche. Der Sonntag sole eben anders sein, heilig. Um das zu unterfüttern – dafür gab es so manche bürgerliche Konvention.

 

II.

„Heute geht ja alles toleranter zu“, hieß es dann auch gleich in der Frauenhilfe. Und ich weiß nicht genau, ob das mit ein wenig Wehmut formuliert („Wir hätten es auch gerne etwas lockerer gehabt!“) oder mit einem Schuss Skepsis: „Heute ist irgendwie nichts mehr heilig …“

 

„Heute geht ja alles toleranter zu“ – tatsächlich: Unsere evangelische Kirche begeht gerade das Themenjahr „Reformation und Toleranz“. Ist Toleranz heute nicht viel erstrebenswerter als „Du sollst“-Sätze?

 

Toleranz kann Verschiedenes sein: Man kann etwas „erlauben“, ohne dass es selber vertritt, etwa das Tragen eines Kopftuchs.

Toleranz kann bedeuten, dass man schiedlich friedlich nebeneinander her lebt, so wie es Katholiken und Protestanten jahrhundertelang nach dem Westfälischen Frieden taten – das war tolerant, aber wenig konstruktiv …

Toleranz kann sein, dass ich eine Lebensweise ausdrücklich respektiere und anerkenne. So hat unsere Kirche in den letzten Jahrzehnten ihr Verständnis von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und homosexuellen Lebensformen geändert hat: von der Ablehnung über die Hinnahme zur Anerkennung.

 

Aber, und das ist die Kehrseite der Medaille: Ich kann total tolerant zu jemanden sein, ohne überhaupt mit ihm in Beziehung zu sein: Lass Du mich in Ruhe, dann lasse ich dich in Ruhe. Das ist tolerant, aber langweilig, mitunter gefährlich.

 

Oder Tolerante werden von den Intoleranten überrannt. Der Humorist Wilhelm Busch hat in den 1920er-Jahren eingeschränkt: „Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intoleranten“.

 

III.

Zurück zu den 10 Geboten. Sie sind zunächst einmal alles andere als „tolerant“. Sie setzen Grenzen.

 

In ihrem biblischen Zusammenhang ist das aber allzu logisch: Israel ist auf dem Weg durch die Wüste, hinter sich die Sklaverei in Ägypten. Vor sich das Gelobte Land. Die Wüste ist gefährlich. Gott rettet mit Wasser und Brot. Er sendet eine Feuersäule zur Orientierung. Und: Er sagt Mose diese Zehn Gebote als Regeln, um in der Wüste zu überleben: Dass man sich verlassen kann: Wenn Du nachts in deinem Zelt schläfst, soll dich keiner bestehlen, dein Vieh begehren oder dich gar töten.

Das Elterngebot bekommt plötzlich einen ganz anderen Sinn: Wenn du alt bist und gebrechlich, mitten in der Wüste, dann sollst du sicher sein können, dass du nicht liegen gelassen wirst. Auch dir gilt die Verheißung des Gelobten Landes, und Du gehörst dazu – und wenn sie dich tragen müssen!

(Das Eltern-Gebot ist folglich vom Sinn her gar nicht an Kinder gerichtet, sondern an Erwachsene, die ihre Eltern versorgen und nicht buchstäblich in der Wüste liegenlassen sollen.)

 

Allein mit „Toleranz“ wäre das Volk Israel nicht weit gekommen: Dem Einen seine eigenen Regeln zu erlauben oder am Anderen beziehungslos vorbeizuleben – das gefährdet in der Wüste alle!

 

Auch Gott ist alles andere als „tolerant“: Er ruft sich in Erinnerung, wer er ist und wie nur er ist:

„Ich bin der Herr dein, der dich aus Äpygtenland, aus der Knechtschaft geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“

 

Gott ist nicht austauschbar gegen einen x-beliebigen Naturgott, der womöglich auch Regen in die Wüste bringen kann. Dem Gott Israels geht es um mehr: Mitte in der Wüste will er daran erinnern, dass er schon einmal geholfen hat als liebender und Recht schaffender Gott: Aus Ägypten hat er befreit, nur er. Und nur er hat diese besondere Liebesgeschichte zu seinem Volk, dass er Abraham und Sara erwählt und ihnen schon das Land versprochen hat, das das Volk in der Wüste erwartet.

Wenn also einer helfen kann, die Wüste zu überwinden, dann er – und es braucht keine anderen Götter. (Neuzeitlich stellen wir immer gleich die Frage: Gibt es anderen Götter? – Es braucht keine anderen Götter!)

 

Ich glaube, dass auch wir befreiende Erlebnisse und Bewahrungen in unserem Leben mit diesem einen Gott in Verbindung bringen können. Dass wir Wüstenerfahrungen mit Blick überstehen können/überstanden haben. Dass wir Aufbrüche in unserem Leben mit diesem Gott in Verbindung bringen können – so etwa die Taufe von Luise heute morgen: Ihr erinnert euch, wie Gott Euch schon beigestanden hat – bei der Geburt, in den ersten Wochen bei den anderen Kindern -: Schöpft daraus das Zutrauen, dass er euch den Weg führt mit Luise, was immer auch passiert!

 

Nicht zufällig setzt Martin Luther bei seinen Erklärungen zu den Zehn Geboten stets bei Gott an: „Wir sollen Gott lieben und (ehr)fürchten.“ Das steht immer voraus. Und dann folgt die eigentliche Erklärung des Gebotes.

 

Die Zehn Gebote sind also nicht die Regeln der Kirche, sondern sagen etwas von Gott.

 

Die Kirche rettet mit den Zehn Geboten nicht den arbeitsfreien Sonntag oder die Ehe. Das tun Gesetze – oder auch nicht. Aber: „Die Kirche erinnert an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung von Regierenden und Regierten“. So heißt es in der 5. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934: Die Zehn Gebote sind sehr wohl Richtschnur für unser soziales Zusammenleben, daher werden die Regierten und Regierenden (wer immer sie sein werden) angesprochen.

 

Die Zehn Gebote strahlen also in zwei Richtungen: Sie beleuchten Gott, wie er ist und was er für unser Zusammenleben anbietet. Und die Zehn Gebote spannen gleichsam einen Freiraum auf für unser Zusammenleben, in dem wir angstfrei leben können. Sie sichern also keine menschliche Autorität (Erfahrung der Frauenhilfsfrauen), sondern Freiräume. Und darin sind sie weit mehr als „Toleranz“ sein kann:

 

„Du sollst kein falsch Zeugnis reden…“ – fragen Sie mal Konfirmandinnen und Konfirmanden, wie auf Facebook, bei Twitter, im Internet überhaupt, über Menschen, manchmal eben auch über sie selbst „falsch Zeugnis geredet wird“.

 

Da ist die Sehnsucht berechtigterweise groß, dass es eben nicht ausschließlich tolerant zugeht. Sondern dass es eine heilsame Grenze gibt, in derer sich jeder frei entfalten kann. Und in der man etwas spürt von Gott, dem Rechtschaffenden und Liebenden!