Wichern III aus Hoffnung (Andacht Pfarrkonvent 2008)

Einem der Väter der Diakonie klagte einmal ein Lehrer von seiner großen Schwierigkeiten mit seinen Schülerinnen und Schülern. Daraufhin erzählte der ihm von ähnlichen Schwierigkeiten, die er aber gemeistert hatte. Der Lehrer wollte es wissen: „Wie hast Du das gemacht?“ – Der Diakoniker, Johann Hinrich Wichern war es übrigens, antwortete: „Du musst sie einfach mögen!“

Andacht Pfarrkonvent 16.1.2008 (Gemeindediakonie in Letmathe)

„Du musst sie einfach mögen“ – so ließe sich „Barmherzigkeit“ in einem kurzen Satz beschreiben. Misericordias: wort-wörtlich ein Herz haben für Arme, Verwaiste, Unglückliche. Und sich dabei in guter Gesellschaft mit dem Nazarener wissen: Der sich, als er das Volk sah, seiner erbarmte. Oder in guter Gesellschaft mit dem Samariter: Als er den, der unter die Räuber gefallen war, sah, jammerte es ihm.

Barmherzigkeit im biblischen Kontext ist mehr als Mit-Leid. Das Leid des Anderen wird zum eigenen Leid –mit allen Grenzüberschreitungen, die wir heute in Seelsorge, Beratung und Therapie auch berechtigterweise problematisieren. Und bei Wichern immer auch in einer wechselseitigen Beziehung von Seelennot und somatischer Not – die gesungenen Verse Wicherns sind uns da womöglich fremd über die Lippen gekommen: „In dem Bruder, der da weinet, in der Schwester tief betrübt, seh ich sein Herz, das sich geneiget, mich in deiner Liebe übt.“

 

Du musst sie einfach mögen – ich vermute (ohne Johann Hinrich Wichern, dessen 200. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, zu verklären) dass dies seine Haltung anderen Menschen gegenüber war. Als er 1833, als 25-Jähriger, in Hamburgs Elendsviertel das Rauhe Haus gründete, Spenden sammelte und verwahrloste Kinder und Jugendliche von der Straße holte. Und der der Kirche die Nächstenliebe und Barmherzigkeit – quasi aus dem Stegreif – ins Stammbuch schrieb:

 

„Die Liebe gehört mir wie der Glaube.“

 

Das war 1848. Neben die Verkündigung sollte die rettende Tat, neben den Prediger der Diakon treten. Eine Kirche fürs Volk sollte sich der Inneren Mission verschreiben:

 

Glaube – Hoffnung – Liebe – aber die Liebe ist eben die größte!

 

 

  1. Jahre nach der Gründung der Inneren Mission steht wieder ein Lehrer vor einem großen Diakoniker, diesmal – so male ich es mir vor meinem geistigen Auge aus – vor Eugen Gerstenmaier, dem ersten Leiter des Ev. Hilfswerks. Dieser Lehrer berichtet davon, dass seine Schülerinnen und Schüler in den Nachkriegswirren mit dem Leben an sich nicht zurechtkommen, so sehr er ihnen auch liebevoll entgegenkommt.

 

Gerstenmaier, so phantasiere ich weiter, hält diesem Lehrer die Proklamation des Hilfswerks aus dem Herbst 1945 vor die Augen:

„Der Hunger klopft an die Türen. Durch die Häuser, durch die Städte, von Jammer verfolgt, schreitet das Unglück. Obdachlose, verzweifelte, verlassene Menschen rufen um Hilfe. (…) Dies darf und soll nicht das Los von Millionen unserer Brüder und Schwestern werden.“

 

Neben Wichern I tritt Wichern II: Die Kirche will nicht mehr nur die Wunden verbinden, Barmherzigkeit üben und Trost spenden, sondern Wunden verhindern, für Gerechtigkeit kämpfen. Liebe soll nicht nur retten, sondern auch die Gesellschaft gestalten. Brüder und Schwestern sind die, die Hilfe brauchen.

 

Zur gesellschaftlichen Diakonie der kommenden Jahrzehnte gehört: den Armen Recht verschaffen; den Stummen Stimme geben.

 

> Lied: Text: Thomas Laubach, Kanon für 4 Stimmen: Thomas Quast (1997)

 

Ich stelle mir weiter vor, dass heute, im 21. Jhd., 200 Jahre nach der Geburt Wicherns, ein heutiger Lehrer unterwegs ist. Zu einer Diakonikerin. Seine Schülerinnen und Schüler … – wir wissen’s schon: so unterschiedliche Aufstiegschancen, so unterschiedliche Familiengeschichten, so unterschiedliche Herkunftsgeschichten. So viele „arm“ – in einem reichen Land. Und vor allem: Wer unten steht, hat schon in jungen Jahren nicht mehr die Erwartung, da rauszukommen: Kinder schätzen so wahnsinnig realistisch ihre Chancen ein.

Gibt es eine Antwort der Kirche und ihrer Diakonie? Gibt es ein Wichern III, einen Begriff, ein Schlagwort, das heute von dem Pioniergeist, von der Begeisterungsfähigkeit eines Johann Hinrich Wichern zeugt und gleichzeitig auf die aktuellen Herausforderung reagiert? –Wolfgang Huber hat im aktuellen „Zeitzeichen“ Wichern III mit dem Begriff der Hoffnung besetzt.

 

Gottvertrauen und tätige Nächstenliebe im Zusammenhang von Hoffnung zu beschreiben – das könnte eine Vergegenwärtigung Wicherns bedeuten. Denn „Hoffnung“ erfüllt Menschen, die wieder neue Zuversicht und neuen Mut fassen, weil andere sich ihrer annehmen – entgegen allem Trend der absoluten Hoffnungslosigkeit.

Hoffnung ist Aussicht, Aufbruch und Ausrichtung nach vorn und damit vielleicht der religiöse Begriff für neue Chancen – und der Kampf für die Strukturen, die Menschen wirklich neue Chancen einräumen. Hoffnung ist letztlich christliche Hoffnung, die Gottes Wirklichkeit neben die Wirklichkeit der Welt treten lässt. Trost im Leiden und Protest gegen das Leiden – und damit ein durch und durch diakonischer Begriff!

 

Glaube – Hoffnung – Liebe: Paulus kannte schon diesen Dreiklang – und womöglich wird im Laufe dieses Vormittags – oder doch zumindest des Wichern-Jahres – aus einem klassischen Trautext ein diakonischer Text. Die Welt und nicht zuletzt die Kirche und ihre Diakonie hätten es nötig! Amen.

 

Gebet: Gott, segne unsere Zusammenkunft. Lass uns den Geist der Liebe, der Gerechtigkeit und der Hoffnung spüren und weitertragen. Stärke darin unserer Vertrauen auf dich. Amen.