Der gerechte Weingärtner (Predigt zu Mt 20, 1-16 / 2004)

Gott ist doch ein Gott der Mühseligen und Beladenen, oder? fragte mich neulich jemand. Ja, sagte ich. Ist Gott dann auch ein Gott der Arbeitslosen?

Predigt

Sonntag: Datum: 8./15. August 2004

Die Arbeiter im Weinberg (Matthäus 20,1-16)

 

Ich stockte: Gott ein Gott der Arbeitslosen? – das hörte sich sehr fremd an.

Irgendwie war ich bereits mitten drin im Evangeliumstext des heutigen Sonntag, der – wie viele neutestamentliche Texte – das Wirtschaftsleben der Zeit Jesu beschreibt – und der unser so dringliches Thema widerspiegelt, das Menschen verzweifeln lässt, auch an Gott zweifeln lässt: die Arbeitslosigkeit.

 

II.

 

Ein Weinberg-Geschäftsführer sucht sich seine Tagelöhner zusammen. Damals gab es keine Arbeitsämter Auf dem Marktplatz wartete man auf eine Anstellung. Dort fanden die Tarifverhandlungen statt. Im Gleichnis haben die Arbeiter nicht viel zu lachen: Sie einigen sich mit dem Weingärtner auf einen Silbergroschen als Tagelohn – damit kam man so eben über die Runden. Ob sie das gerecht finden? Jedenfalls schlagen sie ein – lieber mäßig bezahlte Arbeit haben, als gar keine.

 

Für den Geschäftsführer soll die Arbeit möglichst billig sein: Lohnkosten minimieren, Profit maximieren! Nur nicht zu viele einstellen. Man kann ja notfalls noch später weitere Arbeiter einstellen. Vielleicht hat der Weingärtner so gedacht. Er geht jedenfalls noch mehrmals am Tag auf den Marktplatz.

 

Dabei ist es scharfer Geschäftssinn und nicht Barmherzigkeit, dass er nochmals um 9 Uhr, um 12 Uhr und um 15 Uhr rausgeht und weitere Arbeiter einstellt. Denn um diese Uhrzeit hat der Arbeiter kein Recht mehr auf den vollen Tageslohn. Teilzeit verdient nicht voll – entsprechend gibt es auch keine Verhandlungen, sondern der Arbeitgeber sagt nur: „Ich gebe euch, was recht ist.“ – Lohndumping, hieße das wohl heute. Der Weinberg-Arbeiter erhält mehr oder wenig einen Minijob – die Wein-Branche ist schon damals ein Billiglohnsektor! Soweit nimmt alles seinen gewohnten Gang.

 

 

III.

 

Überraschend ist für mich, dass sich der Geschäftsführer auch nochmals zur elften Stunde auf dem Marktplatz blicken lässt – eine Stunde vor Feierabend, ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt:

Eigentlich ist die Arbeit so wie so gemacht. Und eigentlich ist die Hoffnung der Arbeitslosen längst verloren gegangen, heute noch einen Job zu finden. Wie sich die Gefühlslage gleicht zu den fast fünf Millionen Arbeitslosen und ihren Angehörigen in Deutschland!

  • Das Gefühl, das man nicht mehr gebraucht wird, weil man 45 Jahre alt ist und zu teuer wird.
  • Das Gefühl der Angst: Dass man durch Hartz-IV die Altersvorsorge oder die Wohnung verliert, obwohl man vielleicht 30 Jahre lang hart gearbeitet hat.
  • Das Gefühl der Ohnmacht, dass man Tag für Tag zum Arbeitsamt geht und dann stundenlang wartet und wieder vergeblich gehofft hat.
  • Das Gefühl des Versagens, für sich oder die Familie nicht mehr sorgen zu können.
  • Das Gefühl der Bitternis, dass es gar nicht um Fähigkeiten geht, sondern dass gar nicht genug Arbeit mehr für alle da ist: In Ostdeutschland kommen auf eine freie Stelle bisweilen 8 Arbeitslose – unabhängig von ihrer Qualifikation müssen sieben übrig bleiben! Längst ist Mythos dahin, dass der, der arbeiten will, auch Arbeit findet.

 

Der Geschäftsführer des Weinbergs geht also kurz vor Feierabend nochmals auf dem Marktplatz: „Was steht ihr so müßig herum?“ fragt der Weingärtner. „Uns hat niemand eingestellt.“ – Na, dann geht in meinen Weinberg!“

 

Das ist erste überraschende „Wende im Gleichnis: „Geht auch ihr in den Weinberg“, sagt der Geschäftsführer.

 

Ein Lohn wird nicht vereinbart. Ob überhaupt etwas bezahlt wird? – Egal, wird der eine oder andere denken, Hauptsache arbeiten: Weg vom Marktplatz, wo mich die Menschen anstarren, wo sie mich stigmatisieren – „Langzeitarbeitslose“, wo sie mich bisweilen anpöbeln – „arbeitsscheues Gesindel!“. Der Marktplatz – Ort des Zweifelns und des Scheiterns – wie die Gängen des Arbeitsamtes heute.

Viele Arbeitslose gehen morgens aus dem Haus, als ob sie zur Arbeit gehen, um sich vor ihren Familien und Freunden nicht die Blöße geben zu müssen: „Du auch arbeitslos?“

 

Hauptsache arbeiten – haben vielleicht die Arbeiter gedacht, die noch eine Stunde ran dürfen an diesem Tag. Im Weinberg einen Hauch von Arbeitswelt atmen. Ein Hauch von Normalität.

 

 

IV.

 

Als dann Feierabend ist, kommt die zweite überraschende Wende im Gleichnis:

 

Die Kurzzeitarbeiter, zu aller erst die, die erst um 17 Uhr eingestellt wurden, bekommen Lohn. Und erhalten zur eigenen Überraschung den vollen Tageslohn: einen Silbergroschen. Eine Stunde gearbeitet – und genügend Geld, um die Familie zu ernähren. Ein Stunde gearbeitet – und sie erhalten den gleichen Lohn wie die Ganztagskräften, die 12 Stunden in der Sonne geschuftet haben.

 

Mit Vehemenz bricht die Frage auf: Ist das gerecht?

 

Entsprechend wütend sind die Vollzeitarbeiter: „Jedem das Seine! Vollen Lohn für volle Arbeit!“

 

„Habt Ihr bekommen! – Den vollen Lohn, wie abgesprochen!“

 

„Wir haben aber mehr geleistet! Waren zwölf Stunden in der senkenden Sonne. Und diese Kurzzeitarbeiter, die gerade einmal eine Stunde gearbeitet haben, sollen uns gleichgestellt werden?“

 

„Wir hatten den Lohn so ausgehandelt. Dass ich die anderen gleichstelle, liegt ja wohl in meiner unternehmerischen Freiheit!“

 

„Sie sind verrückt: Sie machen die Preise kaputt. Und die Arbeitsmoral. Wer fängt denn je wieder am frühen Morgen an? – Jedem das Seine – das wäre gerecht!“

 

 

V.

Liebe Gemeinde,

wie finden Sie das? Jedem das Seine? Ist das Verhalten des Weingärtners gerecht?

 

Ich finde, der Geschäftsführer handelt absolut gerecht.

 

Ich finde auch, dass sein Verhalten gegenüber den Kurzzeitarbeitern nicht einfach barmherzig, gütig und großzügig ist, nicht nur mildtätig. Ich glaube auch nicht, dass sein Verhalten jenseits wirtschaftlicher Vernunft ist – nein, sein Verhalten ist für mich gerecht.

 

Denn ein Silbergroschen, der abgesprochene Tageslohn, machte damals das Existenzminimum aus: Er reichte genau dafür, die Familie zu Hause durchzubringen. Der Weingärtner zahlt also genau das, was zum Leben nötig ist.

 

Die Kurzarbeiter haben diesen Silbergroschen zum Leben bitter nötig. Sie haben ihn genauso bitter nötig, wie diejenigen, die den ganzen Tag geschuftet haben.

Der Geschäftsführer verfügt frei über das Vermögen, und so gibt er jedem „das Seine“:

– Der Vollzeitarbeiter erhält den abgesprochenen Lohn, leistungsbezogen!

– Auch der Kurzzeitarbeiter bekommt „das Seine“, nämlich genau das, was er für seine Familie zum Überleben braucht.

Gerechtigkeit – das ist die Spitze des Gleichnisses – bemisst sich also nicht primär nach Leistung. Sie bemisst sich vorrangig danach, was man zum Leben braucht. Gerechtigkeit heißt hier: ein Recht zu haben, ein würdevolles Leben zu führen.

 

Der Haushalter holt die Menschen von der Straße. Er stellt ihre Würde wieder her. Und er gibt ihnen das, was sie zum Leben nötig haben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

Der Weingärtner lässt eben nicht Gnade vor Recht gelten, sondern er ist mit seinem Verhalten im Recht: nicht im eigenen Recht, sondern im Recht des Hilfebedürftigen auf das Existenzminimum.

 

Heute gibt es staatlicherseits die Sozialhilfe, die dem Hilfesuchenden ein Recht auf das Existenzminimum einräumt. Es ist ein hohes Gut, dass es dieses Recht gibt. Und sicher kann man auch darüber nachdenken, Sozialhilfe und Arbeitslosengeld zusammenzulegen, wenn man von Sozialhilfe wirklich leben kann.

 

Aber es darf nicht passieren, dass man immer weiter einseitig kürzt und den betroffenen Menschen die Würde nimmt:

  • Ich denke an die 90-jährige Heimbewohnerin, die zum Geburtstag von ihrer Tochter 150 Euro überwiesen bekam. Auf dem Sozialamt wurde ihr dieser Betrag von der Stütze abgezogen.
  • Ich denke daran, dass selbst die Sparguthaben von kleinen Kindern aufgezerrt werden müssen, bevor Vater oder Mutter ALG II erhalten.
  • Ich denke daran, dass der detaillierte Fragebogen, den Arbeitslose – wie bisher nur Sozialhilfeempfänger – nun ausfüllen müssen, an der Würde kratzen kann: Man muss haargenau Auskunft geben muss über Vermögen und Einkünfte, während sich die Top-Manager im Land weiter beharrlich weigern, ihre Bezüge offen zu legen!
  • Ich denke aber auch an die politischen Kräfte, die sich nun zum Anwalt der Schwachen machen, obwohl sie insgeheim mindestens genauso scharfe Sozialkürzungen anpeilen würde! Auch das ist ein unwürdiger Umgang mit den betroffenen Menschen!

 

Oder bleiben wir direkt bei uns: Wie häufig finden wir uns vorschnell in der Rolle der Langzeitarbeiter wieder:

  • Mit der Angst, selber zu kurz zu kommen gegenüber anderen.
  • Mit dem Argwohn, das die anderen alles umsonst bekommen, während wir hart dafür arbeiten müssen.
  • Mit dem verloren gehenden Gerechtigkeitssinn dafür, dass Leistungsstarke auch mehr für die Allgemeinheit leisten müssen als Leistungsschwache.

 

Als ob die Gerechtigkeit, die einem anderen widerfährt, mir zum Schaden gereichen könnte!

 

 

Nein, der Geschäftsführer ist ein Unternehmer, der sehr wohl harte Bandagen anlegt und früh morgens keinen Pfennig zu viel zahlen will. Aber er kennt genauso seine soziale Verantwortung! Er sorgt dafür, dass die Arbeitslosen durchkommen. Er kann sie nicht ganztags einstellen. Aber er zahlt aus seinem Vermögen ihre Versorgung.

 

Es gibt so viele unzählige Beispiel für ein solches solidarisches Verhalten auch in unserer Zeit: Sie kennen es sicher aus dem eigenen Arbeitsleben, wie nicht so leistungsstarke Menschen in ihren Betrieben mit durchgezogen werden. Da tut man den einen oder anderen Handschlag mehr – und fragt nicht nach dem Lohn (oder dem höheren Lohn).

Oder im Bergbau: Die Jungen sind für die Knochenjobs unter Tage gefahren sind, während sich die Älteren in der Kohlwäsche langsam auf ihre Rente vorbereiten durften. Das war selbstverständlich, und trotzdem gab keine großen Gehaltsunterschiede.

 

Doch nun mehren sich gegenteilige Anzeichen in unserem Land: Es schwindet die Verantwortung für die Schwachen. Es schwindet ein Gerechtigkeitsempfinden, das zunächst von Bedürfnissen der Schwachen ausgeht – nicht von den Ansprüchen der Starken.

 

Längst ist die Wirtschaft nicht mehr ein Nehmen und Geben im Dienste des Menschen. Längst überwiegt der Profit vor dem sozialem Gewissen:

  • Unternehmen bilden nicht mehr aus, beschweren sich aber gleichzeitig, dass qualifizierter Nachwuchs fehlt.
  • Großen Unternehmen erhalten Investionsbeihilfen und es wird ihnen die Ansiedlung bezahlt – um dann Deutschland in Billiglohnländer zu verlassen.
  • Oft zahlen die Großen keine Steuern mehr und beteiligen sich so nicht mehr an der Finanzierung von Gesundheit, Kultur, Sozialsektor und Infrastruktur im diesem Land.
  • Oder noch schlimmer: Sie setzen Firmenpleiten steuerlich ab, wie Vodaphone, das 20 Mrd. Euro Steuern aus der aus der Mannesmann-Übernahme zurückfordert, die in erster Linie hunderten von Arbeitnehmern ihren Arbeitsplatz kostete.
  • Und Manager entdecken ihr soziales Gewissen nur, wenn sie die eigenen Abfindungen festlegen!

 

Das alles stellt der Weinberg-Geschäftsführer durch sein Verhalten auf den Kopf: Er guckt eben nicht primär auf seinen eigene Vorteil und drückt sich nicht vor gemeinnützigem Engagement. Wirtschaften geschieht bei ihm im „Dienste des Lebens“, zum dem auch das Profitstreben gehört – aber nicht nur!

 

 

VI.

Liebe Gemeinde,

haben Sie Gott entdeckt in diesem Gleichnis?

 

Er wird gar nicht genannt. Und doch kommt er vor, und er ist auch in unseren Gedanken die ganze Zeit mitgegangen.

 

Ganz simpel heißt es am Beginn: „Das Himmelreich gleicht einem Hausherrn …“. Gott womöglich als jemand, der zunächst ein raffinierter Lohndrücker ist? –

 

Das wird die Zuhörer Jesu in Spannung versetzt haben: Das, was Du da erzählst, ist unsere tägliche Misere – und Du, Jesus, hast uns doch versprochen, von Gott zu erzählen! – Ja, aber wenn wir von Gott erzählen, dann muss erst die ganze Realität auf den Tisch – ohne jegliche Beschönigung. Wer die Erde nicht berührt, kann den Himmel nicht erreichen. Gottes Himmelreich deutet sich nirgends anders an als mitten in unserer Welt.

 

Gott kommt im Gleichnis nicht vor.

Man kann ihn aber entdecken.

 

Wir entdecken Orte, an den wir als Christen herausgefordert sind, Partei zu ergreifen und von Gottes Gerechtigkeit zu erzählen – selbst mitten im Wirtschaftsleben. Selbst dort, wo Gott gar nicht vorzukommen scheint.

 

Und wir machen die wunderbare Entdeckung, dass Gott an diesen Orten schon längst da ist:

 

  • Gott ist schon an den Arbeitsplätzen, wo Gerechtigkeit vornehmlich mit Leistung definiert wird – an diesem Ort berichtet uns Jesus von einem Weinberg-Haushalter, der zuerst danach fragt, was man zum Leben braucht. So wie dieser Mensch, so handelt auch Gott.

 

  • Gott ist schon auf dem Marktplatz, wo der Mensch an seiner eigenen Würde zweifelt – an diesem Ort berichtet uns Jesus von einem Geschäftsführer, der – ohne nur an eigenen Profit zu denken – dem Schwachen aufhilft. So wie dieser Mensch, so handelt auch Gott.

 

 

VII.

 

Ist Gott nun ein Gott der Arbeitslosen?

Ich habe nach einigem Überlegen geantwortet:

Wir können Gott als Gott der Arbeitslosen entdecken.

Dann entdecken wir Gott neu. Und uns. Und es wird unsere Welt verändern. Gut so. Amen.