„Gute Sozialpolitik stärkt Demokratie“

Der Kreis Recklinghausen gehört in NRW zu den Regionen mit der höchsten Armutsquote. Die Corona-Krise hat die prekäre Situation vieler Bürger noch verschärft. Soziale Themen sollten daher ganz oben auf der Agenda der Politiker stehen, fordert Diakonie-Geschäftsführer Dietmar Kehlbreier vor den Kommunalwahlen. Soziale Sicherheit ist für ihn der Schlüssel für eine starke Demokratie. (Quelle: https://www.diakonie-rwl.de/themen/soziale-hilfen/kommunalwahl-2020-0)

 

Herr Dr. Kehlbreier, das Ruhrgebiet gilt als armutspolitische Problemregion Nummer 1 in Deutschland. In Recklinghausen liegt die Armutsquote bei 20,4 Prozent. Was bedeutet das für Ihre diakonische Arbeit?

Wir sind in einer Region tätig, in der die Städte fast 50 Prozent mehr Sozialausgaben stemmen müssen als noch vor Jahren. Tendenz steigend. Zudem hat uns die Corona-Krise in der Region hart getroffen. Die Zahl der arbeitslos gemeldeten Bürger liegt nun bei knapp neun Prozent. Jeder vierte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ist derzeit in Kurzarbeit. Wir sind in großer Sorge vor den Langzeitfolgen von Corona und dass die Armut im Kreis Recklinghausen weiter zunimmt. Als Diakonie sind wir in wichtigen Bereichen stark auf die freiwilligen Leistungen der Kommune angewiesen – sei es in der Wohnungslosenhilfe, Sucht- oder Schuldnerberatung. Wenn die Kommunen dafür künftig noch weniger Geld zur Verfügung haben, kommen viele Bürger aus der Armutsspirale nicht mehr heraus. Im Ruhrgebiet brauchen wir dringend eine Entschuldung der Städte.

Um die Übernahme der kommunalen Altschulden durch Bund und Land wurde viel diskutiert, aber jetzt ist davon nichts mehr zu hören. Spielt das Thema in der Kommunalwahl noch eine Rolle?

Leider nein. Wir haben uns als Diakonie in die politische Diskussion stark eingebracht, denn wenn die Städte von ihren alten Krediten entlastet würden, entstünden neue Handlungsspielräume, auch um mehr in soziale Arbeit zu investieren. Doch im Juni hat die große Koalition in Berlin entschieden, kein Geld für die Altschulden-Hilfe zu geben, sondern sich stattdessen stärker an den Kosten für die Unterkunft von Hartz-IV-Empfängern zu beteiligen. Das Land will auch nicht einspringen, sondern verweist auf seine Hilfen für Gewerbesteuerausfälle im Zuge der Corona-Pandemie. Das hilft strukturschwachen Regionen aber weniger als unsere Städte schuldenfrei zu bekommen.

 
Während der Pandemie haben die Werkstätten Tüten mit Nahrungsmitteln für bedürftige Familien gepackt. (Foto: Diakonisches Werk im Kirchenkreis Recklinghausen)

Wohnungslosigkeit gibt es auch im Kreis Recklinghausen: Mit diesen Nahrungsmitteltüten wurden Obdachlose und bedürftige Familien während des Lockdowns versorgt. 

In den armen Städten NRWs geht es immer wieder um das Thema Arbeit, in den reichen Städten um die teuren Mieten. Ist die Wohnungsnot auch bei Ihnen ein Problem?

Auch bei uns gibt es Wohngegenden, in denen Sie eine Kaltmiete von 15 Euro pro Quadratmeter zahlen. Dagegen stehen Stadtviertel, in denen nur fünf Euro verlangt werden können. Es fehlt zunehmend die soziale Durchmischung. Bauland in alten Zechengebieten darf nicht vorrangig für schicke Eigentumswohnungen genutzt werden, sondern auch für  sozialen Wohnraum. Wenn wir als Diakonie neue Altenheime oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen bauen, müssen wir in diesen Vierteln direkt höhere Mieten einkalkulieren oder in die ärmeren Viertel ausweichen. Wir möchten aber für alle Menschen Angebote vorhalten und zwar im ganzen Kreis Recklinghausen.

Derzeit steigen die Infektionszahlen wieder. Die Angst vor einem zweiten Lockdown im Herbst ist groß. Wie gehen Sie als Diakonie damit um?

Die erste große Infektionswelle haben wir mit viel Engagement überstanden, aber dabei auch gesehen, wie sehr die Bewohnerinnen und Bewohner in den Einrichtungen der Alten-, Behinderten- und Jugendhilfe unter Besuchsverboten und Isolation gelitten haben. Eine zweite Infektionswelle mit Lockdown müssen wir unter allen Umständen verhindern. Ein wichtiges Instrument wären präventive kostenlose Reihentestungen für Mitarbeitende in Alten- und Eingliederungshilfe. Doch diese Testungen kann der Kreis derzeit nur bei konkreten Verdachtsfällen bezahlen. Wir brauchen Kostenzusagen der Krankenkassen für anlasslose, regelmäßige Testungen. Wir wünschen uns, dass die Kommunen hier Druck machen, damit Land und Bund dies ermöglichen – und zwar nicht nur für Reiserückkehrer und Mitarbeitende in Schulen und Kitas.

 
Plakat gegen Rechtspopulismus und für Menschenfreundlichkeit des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Recklinghausen

Das Plakat gegen Rechtspopulismus und für Menschenfreundlichkeit hängt in allen diakonischen Einrichtungen.

Auch die Rechtspopulisten haben soziale Themen für sich entdeckt und machen damit Stimmung im Kommunalwahlkampf. Wie gehen Sie im Kreis Recklinghausen damit um?

Bei uns hat sich ein “Bündnis für Fairness, Respekt und Toleranz” gegründet, das eine faire Auseinandersetzung im Kommunalwahlkampf anmahnt. Zum Glück sind die Rechtspopulisten bislang nicht groß in Erscheinung getreten. Doch in einigen sozial benachteiligten Stadtteilen versuchen sie Wählerstimmen zu gewinnen, indem sie in der Corona-Krise – wie schon beim Thema “Flüchtlinge” – Unsicherheit und Ohnmachtsgefühle bei den Menschen schüren. Als Diakonie müssen wir mit den Bürgern darüber ins Gespräch kommen, uns aber auch klar positionieren. In allen unseren Einrichtungen hängt inzwischen ein Plakat mit dem Motto “Dies ist ein Ort der Menschenfreundlichkeit”.

Und gegenüber unseren Kommunalpolitikern betonen wir schon lange, dass soziale Themen zur Grundsatzpolitik gehören. Die Menschen brauchen soziale Sicherheit. Das ist der Schlüssel für die Akzeptanz unserer Demokratie. Eigentlich müsste es der Ehrgeiz jedes guten Kommunalpolitikers sein, im Sozial- statt im Haushaltsausschuss zu sitzen. Leider ist es meistens umgekehrt.

Das Gespräch führte Sabine Damaschke. Fotos: Michael Wiese/Diakonie im Kirchenkreis Recklinghausen; pixabay.de